In den Jahren 1990 bis 1999 wurde viel Aufklärungsarbeit über die Vorurteile gegenüber psychisch erkrankten Menschen geleistet. Forscher untersuchten nun, inwieweit sich die Ansichten in Deutschland verändert haben.
Was dachten Einwohner der alten Bundesländer im Jahr 1990 über die Erkrankungen Schizophrenie, Depression und Alkoholabhängigkeit? Matthias C. Angermeyer und seinen Kollegen vom Center for Public Mental Health, Gösing am Wagram, Österreich, befragten dazu 3067 Menschen. Die Wissenschaftler wiederholten ihre Befragung im Jahr 2011 mit 2951 Einwohnern und haben jetzt ihre Ergebnisse in einer vor kurzem veröffentlichten Studie herausgebracht. Die Interviewer lasen den Befragten jeweils eine Fallvignette vor – entweder eine Fallvignette über einen schizophrenen, einen depressiven oder einen alkoholabhängigen Patienten gemäß DSM-III-R. Anschließend fragten die Interviewer danach, welche Ursachen die Befragten den Erkrankungen zuschreiben und welche Hilfen sie empfehlen würden. Außerdem wurden die Interviewten zu ihren emotionalen Reaktionen und Distanzwünschen befragt. Aus den Ergebnissen dieser Befragung gewannen die Autoren den Eindruck, dass sich besonders das Wissen über die Schizophrenie deutlich vergrößert hat. Aufklärungskampagnen über die Erkrankung haben erklärt, dass Schizophrenie eine durch Störungen im Gehirn verursachte Erkrankung ist. Entsprechend stieg die Zahl derer, die annehmen, dass hinter der Schizophrenie eine Gehirnerkrankung steckt: Waren es 1990 noch 53% der Befragten, so lag die Zahl im Jahr 2011 bereits bei 62%. Bei der Depression war die Tendenz jedoch gegenläufig: Gingen 1990 noch 39% der Befragten davon aus, dass die Depression eine hirnbedingte Erkrankung ist, so vermuteten dies im Jahr 2011 nur noch 30% der Befragten. Auch bei der Alkoholkrankheit sank die Zahl derer, die als Ursache eine Gehirnerkrankung vermuten – und zwar von 28% im Jahr 1990 auf 21% im Jahr 2011.
Immer wieder wird diskutiert, ob die Schizophrenie nicht auch eine Folge von stark gestörten Familienbeziehungen ist. Doch das glauben immer weniger Menschen: Dass die Schizophrenie durch einen Mangel an elterlicher Zuwendung entsteht, glaubten 1990 noch 38% der Befragten; 2011 waren es nur noch 32%. Bei der Depression vermuteten 1990 noch 43% einen Mangel an elterlicher Zuwendung als Ursache, während es 2011 nur noch 30% waren. Die Befragten setzen anscheinend zunehmend größeres Vertrauen in die professionelle Behandlung: Bei allen drei Störungen würde ein Großteil der Befragten professionelle Hilfe empfehlen. Im Jahr 2011 hätten 81% der Befragten einem schizophrenen Patienten den Besuch eines Psychiaters empfohlen, während es 1990 nur 65% waren. Die Autoren gehen davon aus, dass sich das Image von Kliniken und Fachleuten in den letzten Jahren drastisch gebessert hat.
Vielen Befragten ist anscheinend die Rolle der Psychopharmakotherapie bewusst: Einem schizophrenen Patienten hätten im Jahr 1990 nur 30% der Befragten zu Medikamenten geraten – im Jahr 2011 waren es bereits 53%. Bei Depressionen stieg der Anteil derer, die Medikamente empfehlen würden, von 26% auf 35% an. Doch auch die Psychotherapie schneidet bei den Befragten gut ab: Bei der Schizophrenie hätten im Jahr 2011 immerhin 82% eine Psychotherapie empfohlen, während es im Jahr 1990 nur 66% waren. Auch bei Depressionen und Alkoholsucht würde der Großteil der Befragten eine Psychotherapie empfehlen.
Etwas überraschend scheinen da allerdings die Umfrage-Ergebnisse zu den Gefühlen und Einstellungen der Befragten gegenüber den Erkrankten zu sein: Im Jahr 2011 gaben 37% der Befragten an, sich vor einem schizophrenen Patienten zu fürchten, während es im Jahr 1990 nur 30% waren. Patienten mit Depressionen oder Alkoholsucht lösten bei den Befragten im Jahr 2011 jedoch weniger Angst aus als im Jahr 1990. Der Wunsch nach Distanz vor dem schizophrenen Patienten wurde allerdings größer: Während 1990 nur 19% einen schizophrenen Menschen als Nachbarn abgelehnt hätten, waren es im Jahr 2011 bereits 29%. Bei Depressionen sanken die Anteile von 16% auf 15%, bei Alkoholsucht von 36% auf 31%. Immer wieder lösen bestimmte Diagnosen ähnliche Gefühle bei den Befragten aus: Während sich die Befragten oft verärgert fühlten, wenn sie mit einem alkoholkranken Patienten konfrontiert waren, lösten depressive Patienten eher den Wunsch aus, zu helfen. Bei schizophrenen Patienten hingegen dominierte die Furcht. Die Autoren können die Ergebnisse der Studie teilweise gut mit den Veröffentlichungen in den Medien in Einklang bringen: Während es zu den biologischen Ursachen psychischer Erkrankungen und zur Pharmakotherapie relativ viele Studien gebe, fänden sich nur relativ wenige Veröffentlichungen zum Thema „Psychologische Intervention“. Außerdem stellen die Autoren fest, dass der Wunsch nach Distanz zu den Erkrankten in dem Maße wuchs, in dem die Befragten annahmen, dass die psychische Erkrankung biologisch verursacht sei. Trotz großer, aber leider oft regional begrenzter Antistigmakampagnen seien viele Vorbehalte geblieben, bedauern die Autoren. Eine US-amerikanische Studie von Bernice Pescosolido et al. untermauert dieses Ergebnis: Die Autoren fanden durch Umfragen heraus, dass in den USA die Vorurteile gegenüber an Schizophrenie Erkrankten höher waren als gegenüber depressiven Patienten. Außerdem nahmen die Befragten zu einem hohen Anteil ebenfalls an, dass psychische Erkrankungen häufig auf hirnorganische Ursachen zurückzuführen sind.
Doch was glauben eigentlich schizophrene Patienten selbst über die Ursache ihrer Erkrankung? Dieser Frage gingen Lorenza Magliano und Kollegen der Universität Neapel, Italien, nach. Hier glaubten 150 von 198 befragten schizophrenen Patienten, dass ihre Erkrankung zumindest eine sozial bedingte Ursache habe. 114 Befragte (57%) glaubten sogar ausschließlich an sozial bedingte Ursachen, wobei 21% Familienkonflikte an erster Stelle sahen, gefolgt von Traumata (20%) und Problemen mit der Arbeit (17%). Schizophrene Patienten, die ihre Diagnose kannten, gingen hingegen öfter von einer biologischen Ursache aus. Der amerikanische Psychoanalytiker und Psychotherapieforscher Jonathan Shedler betrachtet es mit Sorge, dass psychische Erkrankungen zunehmend als biologisch bedingte Erkrankungen angesehen werden. Insbesondere kritisiert er, dass das amerikanische „National Institute auf Mental Health“ (NIMH) in übergroßem Maße die biologischen Ursachen betone. Weitere Informationen: