Defekte in der Retina führen häufig innerhalb weniger Jahre zur Blindheit. Bei einigen erblichen Mutationen ist jedoch die Netzhautstruktur oft noch intakt. Eine Gentherapie mit ausgewählten DNA-Vektoren könnte dabei riskante Operationen am Auge überflüssig machen.
Schon als Kind langsam die Sehkraft zu verlieren und im Lauf des Erwachsenwerdens zu erblinden ist furchtbar. Während etwa die trockene und feuchte Makuladegeneration vor allem ältere Menschen betrifft, schlagen erbliche Formen der Netzhaut-Degeneration schon bald nach der Geburt zu. Eine solche Krankheit ist etwa die Lebersche kongenitale Amaurose, bei der Kinder schon stark sehbehindert auf die Welt kommen. Zwar zählt sie mit einer Häufigkeit von drei Fällen pro einhunderttausend Geburten zu den seltenen Krankheiten, schaut man jedoch in Schulen für Blinde und Sehbehinderte, so findet sich bei jedem fünften Schüler dieses Leiden.
Rund 15 verschiedene Gendefekte haben Wissenschaftler bei dieser Krankheit in den Zellen des retinalen Pigmentepithels festgestellt. Weil jedoch die Mutationen gut erforscht sind, könnte hier die molekulare Genetik zu einer Verbesserung der Sehkraft, vielleicht sogar zu einer Heilung der Krankheit beitragen. Virale Genfähren bringen dabei die korrekten Gene in die entsprechenden Zellen und ersetzen dort die defekten Codes. Etwas voreilig titelte deshalb im Jahr 2008 eine Boulevardzeitung „Gentherapie lässt Blinde wieder sehen“. Ganz soweit ist aber noch nicht, auch wenn in verschiedenen klinischen Studien das Sehvermögen nach der Behandlung zugenommen hat. Das aber nicht bei allen Patienten, sondern vor allem bei Kindern und Jugendlichen und auch nur marginal. Ein Grund dafür liegt nach Meinung der Experten darin, dass die verschiedenen Schichten der Retina einen relativ dichten Gewebeverband bilden. Die als Erbgut-Transporter eingesetzten AAV (adeno-assoziierte Viren) erreichen damit oft nur einen kleinen Teil der defekten Zellen. Das bedeutet aber, dass eine Spritze die Partikel direkt ins Zielgebiet bringen muss, um überhaupt etwas zu bewirken. „Eine Nadel durch die Netzhaut zu stechen und das modifizierte Virus hinter die Retina zu injizieren, ist eine riskante Angelegenheit“, meint David Schaffer vom kalifornischen Stammzellzentrum in Berkeley. „Aber die Ärzte haben da keine Wahl. Denn keine der Genfähren kann den ganzen Weg durch das hintere Auge zurücklegen, um die Photorezeptoren zu erreichen, die die therapeutische Genfracht benötigen.“ Das bedeutet Klinikaufenthalt und oft auch eine Verletzung der empfindlichen Netzhaut.
Idealerweise sollte also das Frachtschiff im Auge eine andere Einfahrtsroute benützen, dann zu seinem Ziel segeln und dort all die engen Kanäle passieren, um die wertvolle Ladung bei den Zielzellen abzuliefern. Genau das scheint der Gruppe um David Schaffer zumindest einmal im Tiermodell gelungen zu sein, wie sie im Fachblatt Science Translational Medicine vor ein paar Wochen berichten. Die Forscher nutzten dabei eine Strategie der „In-vivo-directed-Evolution“, um unter etwa 100 Millionen AAV-Varianten mit unterschiedlichen Virushüllen entsprechende Spezialisten herauszufiltern. Dazu injizierten sie die Viren in den Glaskörper, weit entfernt von der Retina, und isolierten die im Ziel angekommenen AAV. Nach mehreren Runden mit Mutation und Selektion fanden die Wissenschaftler tatsächlich Varianten, die quer durch das Auge wanderten und fast alle Zellen der Photorezeptoren und des Pigmentepithels erreichten.
Auch in der Praxis eines erblichen retinalen Defekts im Mausmodell bewährten sich die so herausgefundenen Genfähren. Nager mit analogen Mutationen und dem Phänotyp einer Leberschen kongenitalen Amaurose wurden durch die neuentwickelten Gentherapie kuriert, wie die Forscher per Elektroretinographie zeigen konnten. Während diese Form der Sehstörung auf einen Defekt im Pigmentepithel ganz am Grund der Netzhaut zurückgeht, handelt es sich bei der X-chromosomalen Retinoschisis um ein defektes Protein der Stäbchen und Zapfen, das für die Struktur der Netzhaut zuständig ist. Auch dabei verhinderte der Vektor mit dem rettenden RS1-Gen das Fortschreiten der Krankheit oder verbesserte die Leistung der defekten lichtempfindlichen Zellen fast bis auf Normalmaß – über die ganze Retina hinweg. Und auch bei höheren Tieren scheint der neue Ansatz erfolgreich zu sein. In Makaken erreichte der Vektor zwar nicht überall das Pigmentepithel der im Vergleich zur Maus wesentlich dickeren Affen-Netzhaut. Aber immerhin schaffte er es zu fast allen Photorezeptoren der Fovea. Deren Funktion stellt die Voraussetzung für scharfes Sehen dar.
Bei der Makuladegeneration oder Retinitis pigmentosa ist oft die Struktur der Retina zerstört und kaum zu reparieren. Ist jedoch die Degeneration nicht allzu weit fortgeschritten und nur ein DNA-Defekt auszubessern, bietet die Gentherapie dabei gute Chance. Diese Chance möchten auch europäische Forschungsteams nutzen. In den Jahren 2008 bis 2011 suchten Wissenschaftler aus Großbritannien, der Schweiz, Italien und Estland mit EU-Geldern nach geeigneten AAV Serotypen für die Behandlung dieser Augenleiden, Forschungen, die am Telethon Institut für Genetik und Medizin in Neapel fortgesetzt werden. Die Ergebnisse deuten gemeinsam mit den Studien aus Amerika darauf hin, dass die Methode sicher ist und signifikante Seh-Verbesserungen bei Patienten bringt. Die Blut-Retina-Schranke sorgt zudem dafür, dass die Transportviren einen Schutz vor einer allzu aggressiven Immunabwehr geniessen.
Daher sucht auch die Schaffer-Gruppe nach geeigneten Patienten, um möglichst bald mit klinischen Studien mit den verbesserten DNA-Vektoren zu beginnen. Auch wenn die Gründe für die verbesserte Verkehrstüchtigkeit im dichten Retina-Gestrüpp noch nicht bekannt sind. Möglicherweise könnte eine verringerte Heparin-Affinität für die bessere Durchdringung der inneren Grenzmembran oder ein neuer Rezeptor der retinalen Zellen für die verbesserte Zielgenauigkeit sorgen. Im Idealfall könnten die optimierten DNA-Transporter nicht nur im Auge von Nutzen sein. „Gentherapie-Ansätze, die eine Lieferung über komplexe Gewebestrukturen hinweg erfordern, könnten ebenso von dieser Strategie profitieren“, spekulieren die Autoren in ihrem Bericht. Dazu gehören auch endotheliale Barrieren wie etwa die Blut-Hirn-Schranke bei systemischer Anwendung oder Intra-Organ- und Tumor-Sperren bei lokaler Applikation.
Gentherapeutische Anwendungen auch in der Klinik stehen nach etlichen Rückschlägen in den Startlöchern. Vor einem Jahr ließ die Europäischen Arzneimittelbehörde EMA die AAV-Viren bei Hyperchylomikronämie zu, einer seltenen erblichen Stoffwechselkrankheit. In einigen Jahren sieht Schaffer auch die Therapie von Patienten mit Netzhaut-Defekten nur mehr als einen kurzen ambulanten Eingriff anstatt einer komplizierten und risikoreichen Operation direkt an der Retina: „Eine Behandlung von etwa einer Viertelstunde und dann können Sie wahrscheinlich noch am gleichen Tag nach Hause.“ Die Arbeit seiner Mitarbeiter hat diese Vision vom wiederhergestellten Sehvermögen wohl zumindest ein Stück näher gebracht.