Die Frage nach dem Beruf der Eltern wird einem im Medizinstudium häufiger begegnen. Oft lautet die Antwort: Sie sind Ärzte. Als Kind von Medizinern hat man es aber auch nicht immer leicht im Leben, wovon Autorin Carolin Wittmann in ihrem Debütroman zu berichten weiß.
Laut einer Studie der Universität Konstanz, die zum Wintersemester 2009/10 Medizinerstsemester an zehn deutschen Universitäten befragt hatte, haben insgesamt fast drei Viertel der Medizinstudierenden Eltern mit einem Hochschulabschluss. Überdurchschnittlich häufig findet sich eine fachtraditionelle Reproduktion, sprich: die Medizinstudierenden stammen aus Ärztefamilien. Auch Carolin Wittmann, Autorin des Buches „Ärztekinder - Aufwachsen mit Risiken und Nebenwirkungen“, wuchs in einer Medizinerfamilie auf. Inwieweit sie das geprägt hat, beschreibt sie auf 285 Seiten voller lustiger Anekdoten, ernsthafter Überlegungen und spannender Geschichten aus dem Alltag eines Ärztekindes. Die ersten Zeilen begann sie zu schreiben, als ihr Vater wegen einer schweren Krankheit im Krankenhaus in Shanghai lag. Da wurde ihr erstmals bewusst, dass sie ihre Geschichte aufschreiben möchte – sei es einerseits, um ihrem Medizinervater einmal ihre Sicht auf ihre Kindheit zu verdeutlichen und andererseits, um andere Menschen unterhaltsam über das Leben als Ärztekind aufzuklären.
Das Buch fängt mit einem Brief Caros an ihren Vater an. Sie entschuldigt sich vorweg für die Veröffentlichung eines Buches, in dem seine Persönlichkeitsrechte mit Füßen getreten würden. Denn Caro berichtet öffentlich und ungeniert über alle Vorkommnisse in ihrer Kindheit als Ärztekind und da kommt ihr Vater natürlich nicht zu kurz. „Ich nehme es dir auch nicht krumm, dass du mir jedes Mal, wenn du mir eine Spritze gegeben hast, zuerst mit Indianerblut, diesem desinfizierenden roten Zeug, auch Mercurochrom genannt, eine Zielscheibe auf den Oberarm gemalt und dann die Spritze geworfen hast“, schreibt Caro. Das tut nämlich viel weniger weh als die Ankündigung, „jetzt piekst es ein bisschen“. Ja – als Kind eines Mediziners erlebt man sicherlich Sachen, über die andere Menschen den Kopf schütteln würden. Caro ist schon als kleines Kind immer in der Praxis ihres Vaters dabei. Sie hilft bei der Aufnahme und Untersuchungen der Patienten, einmal sogar darf sie beim Nähen der Wunde eines Patienten assistieren. Als Caro von dem vielen Blut schlecht wird, meint ihr Vater nur: „Na, na, na. Nicht auf den Herrn Maier brechen, wenn’s geht. (...) Kann ich ja nicht ahnen, dass meine Töchter solche Waschlappen sind. Von mir haben die das nicht!“ Das Leben als Ärztekind ist nicht immer ein Zuckerschlecken.
Bei ihren Freunden ist Caro wegen der Praxis ihres Vaters sehr beliebt. Besonders die „von der schiefen Bahn“ verlangen immer wieder Gratisproben von Medikamenten und in einer urkomischen Aktion jubelt Caro ihnen etwas unter, das ihre Freunde so schnell nicht mehr fragen lässt. Auch sonst gibt Caro während ihres Studiums immer gerne medizinische Ratschläge an ihre Kommilitonen weiter. Ob nun von Rückenschmerzen, Kopfschmerzen oder Seitenstrangangina geplagt, alle möchten von ihr wertvolle Tipps und Medikamentenempfehlungen bekommen. Und dass, obwohl Caro zu diesem Zeitpunkt gar nicht Medizin studiert. Es hat aber auch seine guten Seiten, einen Arzt in der Familie zu haben. Zum Beispiel, wenn der Vater Tipps gibt, die sehr an die Dr. Sommer-Seite der Bravo erinnern oder man günstig die Pille verschrieben bekommt. Und genau das macht Caro in ihrem Buch, neben all den lustig-grotesken Erlebnissen, auch deutlich.
Carolin Wittmann hat sich den Kulturwissenschaften gewidmet und verdient sich heute als freie Journalistin ihr Geld. Ein harter Kampf mit ihrem Vater, denn der legte ihr oft ans Herz, in seine Fußstapfen zu treten. Carolin schreibt in ihrem Buch: „Wenn man meinen Vater fragt, ob er enttäuscht ist, dass keine seiner drei Töchter den Weg in die Medizin gewählt hat, sagt er immer: ‚Nein, das müssen sie natürlich selbst entscheiden.‘ Die Wahrheit ist, dass es ihn verrückt macht, dass wir drei mit unseren Berufen nicht mal in die Nähe einer Arztpraxis kommen.“ Papa Wittmann versuchte schon kurz nach dem Abitur Caro für das Medizinstudium zu begeistern. Mit einer List schaffte er es sogar, dass sie sich in Greifswald einschrieb und dort an der Einführungsveranstaltung für Medizin teilnahm. Von den altbackenen Professoren und überheblichen Kommilitonen abgeschreckt, schrieb Caro nach ein paar Tagen eine entschuldigende Mail an ihren Vater, in der sie ihm erklärte, dass das Medizinstudium mit ihren „moralischen und ethischen Grundsätzen leider nicht vereinbar sei“. Sie studierte daraufhin – sehr zum Leidwesen ihres Vaters – Germanistik.
Diese Problematik kennen sicher viele Ärztekinder. Nur zu oft wünschen sich die Eltern, dass man die heimische Praxis später übernimmt und die Medizinerdynastie weiterführt. Der Konflikt zwischen dem Drängen der Eltern, Medizin zu studieren und dem eigenen, vielleicht gänzlich anderen, Berufswunsch, ist nicht immer leicht zu lösen. Peter Knappe, Münchner Medizinstudent im vierten Semester, kennt dieses Problem sehr gut: „Ich komme aus einer echten Ärztefamilie. Mein Vater ist Arzt, meine Mutter ist Physiotherapeutin und mein älterer Bruder studiert auch Medizin. Deshalb war es für mich in der Schule ganz klar, dass ich alles mache, nur nicht auch noch Arzt werden, weil ich dachte, dann nur vorgetretene Pfade zu begehen. Ich habe geglaubt, dass es in dieser Situation eigentlich gar nicht möglich wäre, eine wirklich eigene Wahl für das Medizinstudium zu treffen. Das war mir aber wichtig, denn ich wollte für mich selbst, ohne Druck von außen, entscheiden, was ich später machen möchte. [...] Ich habe also Jura gewählt. Nach zwei Wochen war mir aber vollkommen klar, dass Jura und ich nicht zusammen passen. Gleichzeitig habe ich gemerkt, dass ich eigentlich wirklich Medizin studieren will, ohne dafür eine echte Begründung zu haben. Also habe ich zum nächsten Semester gewechselt. Mein Vater war dabei aber derjenige, der mir am meisten dazu geraten hat, mir das wirklich noch mal gut zu überlegen. Auch mein Bruder, der zu dem Zeitpunkt gerade im Präpsemester war, hat nicht gerade vom Studium geschwärmt. Ich war dennoch von Anfang an glücklich mit meiner Wahl und bin es heute immer noch.“ Aus Caros Familie entschied sich aber keine der drei Töchter, Ärztin zu werden. Papa Wittmann versuchte, mit Geld, Vitamin B und Überzeugungskraft, wenigstens eine Nachfolgerin für seine Praxis zu finden – vergebens. Einen gänzlich anderen, neuen Trend ergab allerdings kürzlich eine Umfrage eines Ärztenetzwerks. Diese stellte fest, dass zwei Drittel der deutschen Ärzte ihren Kindern heutzutage nicht dazu raten würden, Medizin zu studieren. „Bislang haben die meisten Ärzte auch ihren Kindern empfohlen, diesen Beruf unbedingt zu ergreifen. Dass das jetzt nicht mehr so ist, zeigt, wie weit Politik und Kassen die Ärzte mittlerweile entnervt haben“, berichtet Dr. Michael D. Lütgemeier vom Ärztlichen Sachverständigenrat für eine verantwortungsvolle Medizin in Deutschland. Man könne einen solchen Beruf nicht unbegrenzt mit Bürokratie überfrachten und die Arbeitsbedingungen immer weiter verschlechtern, ohne dass dies Folgen habe. Nur 34,4 Prozent der 835 befragten Ärzte rieten ihren Kindern noch zum Medizinstudium, 65,6 Prozent rieten ab. Doch inwieweit der Trend auch tatsächlich bei der Berufswahl der Ärztekinder eine Rolle spielt, bleibt fraglich.
Caros Vater erzog seine Kinder zu starken Persönlichkeiten, die hart im Nehmen sind und in schwierigen Situationen gelernt haben, „die Arschbacken zusammenzukneifen“. Caro schreibt an ihren Papa: „Ich weiß, du hattest immer Angst, dass deine Brut verweichlicht. Deswegen hast du penibel darauf geachtet, dass wir nicht zu viele Impfungen bekommen oder Tabletten schlucken oder in unserer Gesamtheit zu elendigen Jammerlappen verkommen.“ Im Buch finden sich zahlreiche Situationen und Anspielungen, die dies belegen. Ein Beispiel sind Caros wiederkehrende Migräneanfälle. Alle sechs Wochen wird sie von heftigen Kopfschmerzen und Übelkeitsanfällen geplagt. Für ihren Vater sind diese jedoch nur Einbildungen und er vertritt die Meinung, sie solle sich nicht so anstellen. „Alles Simulanten“, pflegt Papa Wittmann immer zu sagen. Seiner Meinung nach tun die meisten Patienten nur so, als ob sie krank seien, um sich einen schönen verlängerten Urlaub zu machen. Und so haben natürlich auch seine Töchter keine ernsthaften Erkrankungen. Die komplette Familie leidet immer nur an „schwerer, garantiert tödlich verlaufender und unheilbarer Einbildung“ oder wird der Hypochondrie bezichtigt. So ist es auch nicht verwunderlich, dass Caros Vater keinen Grund zum Eingreifen sieht, als seine Tochter im Urlaub Pfeiffersches Drüsenfieber bekommt. Im Gegenteil, er ist sogar stolz, dass Caro den Virus ohne Gegenmaßnahmen bekämpft und bescheinigt ihr gute Selbstheilungskräfte. Medikamente braucht sie seiner Meinung nach nicht. Dass Ärztekinder zu abgehärteten Menschen erzogen werden, ist keine Seltenheit. Oft wird ihnen das Zimperlichsein ausgetrieben, Tabletten und Medikamente werden nur im äußersten Notfall verabreicht. Eine Studie der National Yang Ming University in Taipeh fand 2005 heraus, dass Kinder von Medizinern und Apothekern wesentlich seltener Antibiotika gegen gewöhnliche Erkältungen oder virale Erkrankungen der Atemwege verschrieben bekommen als Kinder sonstiger Bevölkerungsgruppen. Und auch Dr. Steffi Kunze, Ärztin für Allgemeinmedizin, bestätigt dieses Phänomen: „Carolin Wittmann beschreibt mit viel Humor die eigentlich auch zum Problem werdende „Dauerbereitschaft“ der Ärzte für andere da zu sein. Die eigene Familie kommt dabei tatsächlich etwas zu kurz, die Zuwendung bei Krankheit innerhalb der eigenen Familie muss schon mit Nachdruck eingefordert werden. Meine Kinder haben in manchen Punkten sicher auch “eine schlimme Kindheit” gehabt, wie sie heute scherzhaft sagen. Sie sind aber keine „Weicheier“ und meistern ihr Leben inzwischen. Unsere Tochter ist übrigens „trotzdem“ Ärztin geworden.“
Carolin Wittmann erzählt in einer Art und Weise aus ihrem Alltag, die jeden sofort fesselt. Mit viel Detailtreue und Witz schildert sie ihre Erfahrungen als Ärztekind seit frühester Kindheit. Ronja R., Regensburger Medizinstudentin, gefällt das Buch sehr: „Ich bin selbst Ärztekind und war sehr skeptisch, was dieses Buch betraf. Schon nach den ersten Seiten habe ich mich fast gegruselt, so realitätsnah und absolut urkomisch beschreibt Caro Wittmann den absurden Alltag eines Ärztekinderdaseins. Es ist wirklich wahr - die Realität ist oft komischer und härter als jede Fiktion. Ich würde gerne von meinen Lieblingsszenen berichten, aber das würde zu viel vorweg nehmen – ich will nur auf das Frühstück mit dem Freund von Carolins Schwester Juliane hinweisen. Genauso wie viele weitere Geschichten, die Caro offen schildert, ohne je ein Blatt vor den Mund zu nehmen. Als dann ihr Herr Vater - unantastbarer Gott in Weiß - und somit auch ihr gesamtes Weltbild bedroht wird, konnte ich das Buch erst recht nicht mehr weglegen. Sehr gelungen.“ Auch Chirurg Robert Schuster findet „Ärztekind“ empfehlenswert: „Eigentlich kommt meine Berufsgruppe in diesem Buch ja gar nicht gut weg. Nichtsdestotrotz kann man nicht anders, als diesem Buch die beste Bewertung zu geben. Auch wenn es, und ich zitiere, ohne ‚anspruchsvolle chirurgische Eingriffe‘ auskommt, so strotzt es doch vor unglaublich lustigen (Alltags-)Situation, die unter Frau Wittmann's pointierter Wahrnehmung noch an Ausmaß gewinnen. Stets eine Gratwanderung aus Lachen und Anklage, jedoch nie ohne lächelnd dargebotene Selbstreflektion und eine gehörige Prise Sarkasmus. Doch nicht nur die Autorin reflektiert, auch der Leser mag das eine oder andere wiederfinden, was zum Nachdenken anregt. Dieses Buch ist dennoch keine Autobiographie mit erhobenem Zeigefinger, dieses Klippe umschifft die Autorin gekonnt. Ich hoffe auf eine Fortsetzung.“ Fernsehauftritt von Carolin Wittmann zum Buch