Viele Patienten wissen nicht über ihre Rechte gegenüber Ärzten und Kliniken Bescheid und fordern sie deshalb auch nicht ein. Und das, obwohl es seit mehr als fünf Jahren ein Patientenrechtegesetz gibt. Für Mediziner kann dieser Umstand bequem sein, aber auch gefährlich werden.
Der Fall eines Mannes, der wenige Tage nach der Amputation seines linken Oberschenkels verstarb, sorgte für Aufregung in München: Das Universitätsklinikum Großhadern hatte versucht, einer Witwe die Patientenakte ihres verstorbenen Mannes vorzuenthalten. Die Frau wollte eventuellen Behandlungsfehlern auf den Grund gehen, was ohne Dokumente kaum möglich ist. Laut Patientenrechtegesetz – das Regelwerk gilt seit mehr als fünf Jahren – müssen Ärzte nicht nur alle Eingriffe dokumentieren. Vielmehr haben Erben einen Anspruch auf alle Dokumente. Doch der beauftragte Rechtsanwalt bekam auf Nachfrage nur einzelne Seiten, etwa Pflegeverlegungsberichte – auf dem Briefpapier des Leiters der chirurgischen Intensivstation. Rechtsanwälte zweifelten an der Echtheit mancher Dokumente. Ist die Akte verschollen oder soll etwas verheimlicht werden? Diese Frage bleibt unbeantwortet, Großhadern schweigt zu allen Vorwürfen. Mitte August haben Richter schließlich zu Gunsten der Witwe entschieden.
„Solche Fälle tauchen in der juristischen Fachliteratur immer wieder auf“, erzählt Dr. Stefan Loos DocCheck. Er ist stellvertretender Bereichsleiter der Gesundheitspolitik am IGES, einem unabhängigen Forschungs- und Beratungsinstitut für Infrastruktur- und Gesundheitsfragen. „Das haben wir zum Zeitpunkt unserer ersten Studie in 2016 gesehen, und das ist auch heute noch ein großes Problem.“ Seine Erklärung: „Fordern Patienten ihr Recht ein, Patientenakten zu bekommen, wird das von Ärzten nicht selten als Vertrauensbruch bewertet und nicht gern gesehen.“ In seiner Untersuchung fand Loos heraus, dass gerade einmal 60 % aller Versicherten ihre Patientenrechte kannten. 30 % wussten nicht, dass Kassen innerhalb einer gesetzlich festgelegten Frist über Anträge auf Kostenübernahme entscheiden müssen. Und nur 25 % würden wie vorgesehen ihre GKV bei möglichen Behandlungsfehlern kontaktieren. Die zentralen Kritikpunkte am Patientenrechtegesetz:
Probleme lassen sich anhand des Falls aus München-Großhadern veranschaulichen. Hier geht es gleich um mehrere Passagen des Patientenrechtegesetzes: Laut § 630f des Bürgerlichen Gesetzbuchs (BGB) müssen Ärzte oder Zahnärzte alle Leistungen dokumentieren. Und § 630g BGB regelt die Einsichtnahme in Akten durch Betroffene bzw. durch deren Erben. Dem Patienten sei auf Verlangen „unverzüglich Einsicht in die vollständige, ihn betreffende Patientenakte zu gewähren, soweit der Einsichtnahme nicht erhebliche therapeutische Gründe oder sonstige erhebliche Rechte Dritter entgegenstehen“. Die Ablehnung der Einsichtnahme ist zu begründen. Soviel zur Theorie. Eine Stichprobe der Stiftung Warentest hat ergeben, dass nur drei von zwölf angeforderten Akten größtenteils vollständig und lesbar waren. Laut Datenschutz-Grundverordnung (DSGVO) müssen Kliniken oder Praxen alle Vorgänge revisionssicher, also nicht veränderbar, dokumentieren. Und Patienten steht frei, Verstöße an den Landesdatenschutzbeauftragten zu melden. Ob Informationen aus diversen, oft noch handschriftlich geführten Journalen überhaupt in der EDV landen, lässt sich für Externe nicht nachvollziehen. Doch selbst mit den entsprechenden Dokumenten in der Hand tun sich Patienten schwer. Ohne Gutachter werden sie in Aufzeichnungen, Daten der Bildgebung oder Laborparametern keine Hinweise auf etwaige Behandlungsfehler finden. Denn im Regelfall müssen sie Indizien liefern (§ 630h BGB). Diese Beweislast kehrt sich um, falls die Zustimmung des Patienten fehlt, der Arzt Patienten nicht aufgeklärt hat, ihm die fachliche Kompetenz fehlt oder falls er Therapien nicht dokumentiert hat.
Gerade das Thema Zustimmung hat es in sich, wie folgender Fall zeigt: Patienten dürfen selbst entscheiden, wer eine OP durchführt. Ein Mann aus dem Raum Mönchengladbach vereinbarte als Wahlleistung, vom Chefarzt an der Hand operiert zu werden. So wurde es auch vertraglich festgehalten. Letztlich griff aber nicht der Chef zum Messer, sondern der leitende Oberarzt als Vertretung. Postoperativ stellten sich bei dem Patienten an der operierten Hand erhebliche gesundheitliche Beeinträchtigungen ein. Er klagte Schmerzensgeld ein. Dem operierenden Oberarzt bescheinigten Gutachter tadellose Arbeit. Ob der Chefarzt bessere Resultate zu Wege gebracht hätte, ist fraglich. Trotzdem argumentierte der Bundesgerichtshof, es sei unerheblich, ob der Ersatzmann korrekt gearbeitet habe. Vielmehr fehle eine gültige Zustimmung des Patienten. Damit hat der Kläger Anspruch auf Schadensersatz. Nicht alle Versicherten trauen sich, bei Hinweisen auf Behandlungsfehler vor Gericht zu ziehen. „Eigentlich sollen GKVen Patienten laut § 66 SGB V unterstützen, ihr Recht zu bekommen“, so Loos. „An der Umsetzung hapert es derzeit noch.“ Oft schalten Kassen nach Anfragen ihrer Versicherten nur den Medizinischen Dienst des Spitzenverbandes Bund der Krankenkassen (MDS) ein. Und unternehmen selbst keine weiteren Schritte.
Außerdem sieht das Patientenrechtegesetz vor, dass gesetzliche Krankenkassen Anträge zu besonderen Leistungen innerhalb von drei bis fünf Wochen zu entscheiden haben – je nachdem, ob sie zusätzlich einen externen Gutachter befragen oder nicht. Kommen GKVen ihrer Verpflichtung nicht nach, wird die Sache für sie teuer. Dann müssen sie nämlich alle Kosten einer Behandlung übernehmen, selbst wenn die Antragsteller eigentlich kein Recht darauf hätten. Zu dem Ergebnis kam das Bundessozialgericht Ende 2017 (Aktenzeichen B 1 KR 15/17 R und B 1 KR 24/17 R). Die Klage ging von zwei Frauen aus, die wegen massiver Gewichtsabnahme gern eine Abdominalplastik (Straffung der Bauchhaut) gehabt hätten. Doch ihre Kasse hüllte sich in Schweigen. Für Richter war klar, dass ihr Antrag damit als genehmigt gilt. Einem Gutachten zufolge genehmigen GKVen zwar viele Leistungsanträge, jedoch mit deutlichen Unterschieden bei der Leistungsart. Bei häuslicher Krankenpflege waren es 97 Prozent, bei Hilfsmitteln 87, und bei Vorsorge- oder Rehabilitationsmaßnahmen wie Kuren lediglich 81 Prozent. Die Unterschiede lassen sich anhand der Studie nicht erklären. Sie widerlegen jedoch eine Vermutung: Kassen würden Anträge häufig ablehnen, nur um die Zeitvorgabe im Patientenrechtegesetz einzuhalten.
Die juristischen Schwachpunkte werden wohl in absehbarer Zeit nicht vollständig beseitigt werden können. Es geht aber trotzdem voran. Das Aktionsbündnis Patientensicherheit (APS) und der Verband der Ersatzkassen (VDEK) sehen im Patientenrechtegesetz ohnehin nur eine Grundlage. Als konsequente Weiterentwicklung haben sie ein „Weißbuch“ für mehr Patientensicherheit verabschiedet. Ihre Forderungen an die Politik: