ADHS, bipolare Störungen und Schizophrenie treten gelegentlich gemeinsam auf. Der Psychologe Henrik Larsson hat mit seinen Kollegen eine große epidemiologische Studie durchgeführt und vermutet gemeinsame genetische und umweltbedingte Wurzeln.
ADHS, Schizophrenie und Bipolare Störung – sie sind Gegenstand aktueller genetischer Studien. Die Studien weisen auf genetische Auffälligkeiten wie beispielsweise geteilte Genloci, genetische Deletionen und Duplikationen (Copy Number Variants, CNV) hin. Henrik Larsson und seine Kollegen wollten nun herausfinden, ob es Hinweise auf geteilte genetische und umweltbedingte Ursachen gibt. Sie analysierten die Daten von 61.187 ADHS-Patienten aus Schweden; 68% der Probanden (n = 41.603) waren männlich. Die Daten stammen aus den Nationalen Gesundheitsstatistiken Schwedens. Es wurden alle Patienten registriert, die zwischen 1987 und 2009 die Diagnose "ADHS" erhalten hatten (ICD-9-Code: 314, ICD 10: F 90). Die in die Studie eingeschlossenen Patienten waren zwischen 3 und 65 Jahren alt, als bei ihnen erstmals ADHS diagnostiziert wurde.
Henrik Larsson und sein Team sahen sich die Daten der Studienteilnehmer, die von ADHS betroffen waren, genau an: Wie hoch ist ihr Risiko, auch an einer bipolaren Störung oder Schizophrenie zu erkranken? Aus dem Bevölkerungsregister suchten die Autoren für jeden ADHS-Fall zufällig 10 Kontrollteilnehmer desselben Geschlechts und Geburtsjahrgangs heraus. Keiner der Kontrollteilnehmer hatte eine ADHS-Diagnose zu dem Zeitpunkt, zu dem bei den Indexpatienten ADHS diagnostiziert wurde. Den Autoren lagen ebenfalls die Daten der Verwandten ersten und zweiten Grades der ADHS-Patienten und der Kontrollteilnehmer vor. Die Wissenschaftler gingen davon aus, dass geteilte genetische und umweltbedingte Risikofaktoren dann angezeigt werden, wenn die Probanden mit der Indexstörung (hier also ADHS) Verwandte haben, die an den beiden anderen zu untersuchenden Störungen leiden. Die Verwandten dürfen jedoch selbst nicht die Indexstörung (ADHS) aufweisen.
In der ADHS-Probandengruppe gab es 60.655 Patienten ohne Schizophrenie. Davon hatten 2989 Patienten (4,9%) eine Bipolare Störung. Hingegen lag bei nur 0,2% der Kontrollgruppe eine bipolare Störung vor. Demnach hatten die Mitglieder der ADHS-Probandengruppe ein 24-mal höheres Risiko, die Diagnose "Bipolare Störung" zu erhalten. Betrachteten die Forscher die Gruppe von ADHS-Patienten ohne Bipolare Störung (n = 58.133), so waren 0,8% von einer Schizophrenie betroffen. In der Kontrollgruppe wiesen nur 0,1% der Teilnehmer eine Schizophrenie auf. Das Risiko der ADHS-Patienten für die Diagnose "Schizophrenie" war also erhöht (OR = 6,7). Auch bei den Verwandten der ADHS-Patienten waren die Risiken erhöht: Verwandte 1. Grades der ADHS-Probanden hatten ein höheres Risiko, an einer bipolaren Störung zu erkranken als die Verwandten 1. Grades der Kontrollgruppe (OR = 1,84–2,54). Auch die Verwandten 2. Grades der ADHS-Gruppe waren eher von einer Bipolaren Störung betroffen als die Verwandten 2. Grades der Kontrollgruppe. Eine "reines" Aufmerksamkeitsdefizit-Hyperaktivitätssyndrom bei den Probanden sagte ein höheres Risiko für eine bipolare Störung bei den Verwandten voraus.
Die Assoziationen von ADHS und Schizophrenie wurden bisher nur wenig beachtet. Studien konnten jedoch bereits zeigen, dass bei Patienten mit einem Beginn der Schizophrenie im Kindesalter eine ADHS-Prävalenz von 84% vorlag. Auch ist ADHS überrepräsentiert bei Kindern von schizophrenen Patienten: Die Prävalenz liegt bei 20–35%. In der Studie von Larsson et al. traten bipolare Störungen bei ADHS-Patienten häufiger auf als die Schizophrenie. Die Wissenschaftler leiten daraus ab, dass ADHS mehr Symptome mit der bipolaren Störung teilt als mit der Schizophrenie. Sie vermuten gemeinsame genetische Wurzeln von ADHS und Bipolarer Störung. Das gemeinsame Auftreten von ADHS und Bipolarer Störung könnte ein Subsyndrom sein, dass sich von den jeweils reinen Erkrankungen unterscheidet, so die Autoren.
Immer wieder diskutieren Wissenschaftler darüber, ob ADHS hauptsächlich genetisch vererbt wird oder ob umweltbedingte Ursachen im Vordergrund stehen. Doch die Diskussion ist nicht leicht, denn das Bindeglied zwischen Genetik und Umweltfaktoren bildet heute die Epigenetik: Umweltfaktoren wie z.B. elterliches Verhalten können die Gene in ihrer Expression beeinflussen. Der Kinderpsychiater und Psychoanalytiker Terje Neraal zeigt immer wieder auf, wie groß der Einfluss der Eltern-Kind-Beziehung auf die Entwicklung von ADHS ist. "Anhand einer Studie an 93 nach diesem [Anmerkung der Autorin: beziehungsdynamischen] Modell behandelten Kindern wird gezeigt, dass eine medikamentöse Therapie mit Psychostimulanzien in der Regel überflüssig ist", schreibt er in seinem Buch "ADHS: Symptome verstehen - Beziehungen verändern".
Auch bei der Depression zeigen Säuglingsforscher immer wieder, wie eine genetische Vererbung regelrecht vorgetäuscht werden kann: Depressive Mütter können nur eingeschränkt den Kontakt zu ihren Babys aufnehmen und rufen dadurch verschiedene emotionale Störungen beim Kind hervor. Auch kann sich aufgrund des belastenden Beziehungsmangels die Stoffwechsellage des Kindes ändern. In diese Richtung weist beispielsweise die Cortisol-Studie von Lynn Murray et al.. Heute werden die Forscher anscheinend versöhnlicher in ihren gegensätzlichen Ansichten. Anita Thapar und Kollegen der Cardiff University School of Medicine kommen in ihrem Review "What have we learnt about the causes of ADHD?" (2013) zu dem Schluss: "No single risk factor explains ADHD. Both inherited and noninherited factors contribute and their effects are interdependent."