Traurige Premiere in Deutschland: Erstmals haben Richter einen Arzt wegen Fehlern im Praktischen Jahr nach dem Strafrecht verurteilt, und zwar wegen fahrlässiger Tötung. Eine falsche Spritze führte zum Tod eines Kleinkindes. Im Prozess zeigten sich auch organisatorische Schwächen im Krankenhausbetrieb und bei der Ausbildung von PJlern.
Bielefeld im August 2011. Helmut W., damals 29 Jahre alt, stand kurz vor dem Abschluss seines Medizinstudiums. Seit rund einer Woche war er als PJler auf der Kinderstation des Evangelischen Krankenhauses Bielefeld tätig. Dort behandelten Kollegen gerade einen zehn Monate alten Leukämie-Patienten. Am verhängnisvollen 22. August sollte W. eigentlich nur Blut abnehmen. Er verstand Handlungsanweisungen falsch und dachte, auch ein Antibiotikum sei zu verabreichen. W. applizierte das perorale Präparat jedoch intravenös, und kurz darauf verstarb der Säugling aufgrund eines anaphylaktischen Schocks (DocCheck berichtete).
Der Fall landete beim Amtsgericht Bielefeld. Im Oktober 2012 kam es zur Verhandlung. Richter sprachen von „mangelnder Sorgfalt“ – W. hätte in Erfahrung bringen müssen, welches Medikament zu verabreichen sei. Auch hätte er ohne ärztliche Order gehandelt. Hinweise auf ein Organisationsverschulden der Klink fanden Juristen aber nicht. Und so wurde W. aufgrund fahrlässiger Tötung zu einer Geldstrafe in Höhe von 120 Tagessätzen zu je 15 Euro verurteilt. Das wiederum führt zu einem Vermerk im polizeilichen Führungszeugnis – gleichbedeutend mit dem Ende der ärztlichen Karriere. Der Beklagte legte Berufung ein.
Jetzt hat sich das Landgericht Bielefeld als zweite Instanz mit der Materie befasst. Zeugen und Gutachter wuschen Helmut W. zwar nicht rein. Das Evangelische Krankenhaus Bielefeld musste aber eklatante Fehler eingestehen. So wurden bis zum verhängnisvollen Tag identische Spritzen für oral oder intravenös zu verabreichende Medikamente verwendet, obwohl dieses System schon damals umstritten war: In den USA hatte es zuvor mehrere Todesfälle durch Verwechslungen gegeben. Erst nach dem verhängnisvollen Irrtum entschlossen sich Verantwortliche in Bielefeld zur Umstellung, die neuen Spritzen passen nicht mehr an Infusionssysteme. Geeignete Produkte seien aber schon früher auf dem Markt gewesen, argumentierten die Richter. Der zuständige Chefarzt beteuerte, es hätte sehr wohl Unterschiede bei Spritzen gegeben, je nach Verwendung: durch Etiketten mit Patientendaten, Medikament und Dosierung sowie durch eine Nadel mit Schutzhülle. Im besagten Fall war die Spritze nur mit einem Combi-Stopper versehen und trug keine Hinweise, was für ein orales Präparat sprechen soll. Ein Kommilitone von W. kannte vermeintliche Standards des Hauses jedenfalls nicht und monierte häufigen Personalwechsel auf der Station. Darüber hinaus habe es weder feste Ansprechpartner noch konkrete Anweisungen zur Medikamentengabe gegeben. Als Sachverständiger nahm Dr. Bernhard Marschall, Studiendekan aus Münster, Stellung. Er sprach von „Organisationsmängeln“ und wies die Richter darauf hin, PJler seien „das kleinste Rädchen im Getriebe“: Sie müssten auf Station ärztliche Aufgaben verrichten, obwohl sie eigentlich nichtärztliche Mitarbeiter seien.
Eine Krankenschwester belastete Helmut W. jedoch schwer. Mit den Worten „Hier ist das orale Antibiotikum“ habe sie eine Spritze mit Cotrimoxazol ins Zimmer gebracht, während der Student gerade Blut abnahm. Der Beschuldigte erinnert sich an den Satz „Hier ist das Medikament“ – wer was gesagt hatte, ließ sich nicht mehr nachvollziehen. Auch sei er der Meinung gewesen, es handele sich um Refobacin®, also Gentamicin, zur Bestimmung des Tal-Berg-Spiegels. Obwohl er die Akte des kleinen Patienten nicht kannte und bei einer morgendlichen Besprechung nicht anwesend war, verabreichte er die Lösung.
Dr. Theodor Windhorst, Präsident der Ärztekammer Westfalen-Lippe, kommentierte den Prozess. Er sieht drei unterschiedliche Problemfelder: Primär müssen Chefärzte in akademischen Lehrkrankenhäusern für Standards sorgen – auch bei der Betreuung angehender Ärzte. Ein Organisationsverschulden der Klinik lässt sich ebenfalls nicht von der Hand weisen. Darüber hinaus hat W. ohne Zweifel falsch gehandelt. „Wenn ein Arzt in Ausbildung etwas tut, muss er wissen, dass er das Richtige tut“, gibt Windhorst zu bedenken. Das Landgericht Bielefeld sah als zweite Instanz bei Helmut W. den Tatbestand einer fahrlässigen Tötung als gegeben an. Richter Wolfgang Lerch sprach von einem „Fahrlässigkeitsvorwurf“. Er verringerte die erstinstanzlich verhängte Strafe auf 90 Tagessätze, da er organisatorische Defizite im Krankenhaus als schuldmindernd einstufte. Im polizeilichen Führungszeugnis wird bei weniger als 91 Tagessätzen kein Eintrag zu finden sein. Jetzt warten Staatsanwälte, der Beklagte und die Eltern des verstorbenen Säuglings auf entsprechende Schriftsätze, um zu entscheiden, inwieweit sie in Revision gehen. Die Verteidigung plädiert auf einen Freispruch. W. hat seine Approbation Anfang 2013 erhalten und arbeitet mittlerweile in einem Krankenhaus. So oder so ist die Sache nicht ausgestanden: Ein Ermittlungsverfahren gegen die Kinderklinik im Evangelischen Krankenhaus Bielefeld läuft. Auch hier bestehe der Anfangsverdacht der fahrlässigen Tötung durch eine massive Verletzung der Sorgfaltspflicht, gaben Staatsanwälte bekannt.
Kollegen sind nach dieser bundesweit ersten strafrechtlichen Verurteilung eines PJlers ratlos. „Leider haben die Richter zunächst mehr Verunsicherung als Klärung geschaffen. Denn junge Ärztinnen und Ärzte in Ausbildung fragen sich, was sie in Zukunft tun dürfen und was nicht“, sagt Theodor Windhorst. In der Approbationsordnung heißt es lapidar, sie sollen „entsprechend ihrem Ausbildungsstand unter Anleitung, Aufsicht und Verantwortung des ausbildenden Arztes ihnen zugewiesene ärztliche Verrichtungen durchführen“. Windhorst: „Wir müssen eng an diesen Vorgaben der Approbationsordnung bleiben und überdenken, wie die Rolle der PJler im Arbeitsalltag auf den Stationen unter diesen Bedingungen für alle Seiten nutzbringend und besonders für Patienten und Ärzte in Ausbildung sicher gestaltet werden kann.“ Der Ärztekammer-Präsident wünscht sich in Zukunft, Studierenden erfahrene Ärzte als Mentoren an die Seite zu stellen.