Bis zu 80 Anfragen zu Arzneimittelrisiken in Schwangerschaft und Stillzeit werden täglich vom Pharmakovigilanzzentrum für Embryonaltoxikologie an der Charité Berlin bearbeitet. Schmerzmittel und Antiallergika dominieren bei den Anfragen.
Hinweise wie „keine ausreichenden Erfahrungen in der Schwangerschaft“ im Beipackzettel oder der Fachinformation sind wenig zielführend. Der Passus dient der rechtlichen Absicherung der Hersteller, führt aber nicht selten zu einem Therapie- oder gar Schwangerschaftsabbruch. Auch Hinweise wie embryotoxisch, fetotoxisch oder teratogen erlauben keinen Vergleich der Pharmaka einer Indikationsgruppe.
Auf den Seiten von www.embryotox.de wird die Eignung von 420 Arzneimitteln in den verschiedenen Phasen der Schwangerschaft sowie in der Stillzeit besprochen. Außerdem gibt es konkrete Empfehlungen für den Arzneimitteleinsatz bei bestimmten Erkrankungen. Bis April 2013 zeigte der Counter eine Besucherzahl von insgesamt zwei Millionen Besuchern. Für Smartphone User existiert auch eine App. Die Hitliste der Anfragen wird angeführt von den Wirkstoffen Paracetamol, Ibuprofen und dem Antiallergikum Cetirizin.
In der Fachinformation wird im Abschnitt 4.3 auf Gegenanzeigen wie eine Gravidität und im Abschnitt 4.6 auf eine differenzierte Einschränkung hingewiesen. Detaillierte Informationen bietet die Rote Liste. Hier werden die Chiffren Gr 1 – 11 benutzt, um differenziert vor Gefahren in der Schwangerschaft zu warnen. Je höher die Zahl, desto größer das Risiko.
Chiffren Gr 1–Gr 3: Arzneimittel, von denen mit an Sicherheit grenzender Wahrscheinlichkeit angenommen werden kann, dass sie von einer großen Zahl von schwangeren Frauen eingenommen wurden, ohne dass sich bis heute Hinweise auf eine erhöhte Rate an Missbildungen oder andere klinisch relevante Folgen für den Embryo ergeben hätten. Dem Grundsatz, dass Arzneimittel in der Schwangerschaft, besonders im 1. Trimenon, generell nur bei strenger Indikationsstellung unter Berücksichtigung des Risikos für Mutter und Kind angewendet werden sollen, tragen Hersteller Rechnung, die Einschränkungen in der Schwangerschaft angeben und dies mit Gr 1–Gr 3 begründen. Chiffren Gr 4–Gr 6: Arzneimittel, von denen man annimmt, dass sie nur von einer kleinen Anzahl schwangerer Frauen eingenommen wurden, die aber nach den bisherigen Erfahrungen keine erhöhte Rate an Missbildungen oder andere schwerwiegende Folgen für den Embryo verursachten. Dazu gehören z. B.
Chiffre Gr 7: Unter „embryotoxisch” wird die Summe aller mittelbaren und unmittelbaren Wirkungen auf den Embryo verstanden, die Missbildungen, andere bleibende Schäden oder Tod verursachen können. Chiffre Gr 8: Unter „fetotoxisch” wird die Summe aller mittelbaren und unmittelbaren Arzneimittelwirkungen auf den Fetus verstanden. Diese können vorübergehend (z. B. Elektrolytstörungen durch Diuretika) oder bleibend (z. B. Zahnverfärbung durch Tetracycline) sein. Als mittelbare Störung ist z. B. eine Minderdurchblutung der Plazenta anzusehen. Chiffre Gr 9: Unter „perinatalen Komplikationen oder Schädigungen” werden Arzneimittelwirkungen verstanden, die den Geburtsvorgang beeinflussen oder Schädigungen des Feten/Neugeborenen hervorrufen können (z. B. uteruskontrahierende Wirkung durch Ergotalkaloide, verstärkte Blutungen durch Prostaglandinsynthesehemmer, Ikterus neonatorum durch Sulfonamide). Chiffre Gr 10: Diese Kategorie gilt insbesondere für Sexualhormone (z. B. Vermännlichung weiblicher Feten durch Androgene). Diese spezifischen Hormonwirkungen sind nicht unter Chiffre Gr 7 oder Gr 8 eingeordnet.
Die FDA teilt in ihren Pregnancy [risk] Categories (PRC) Arzneimittel in Bezug auf das Risiko in der Schwangerschaft in fünf Kategorien ein.
Die Europäische Zulassungsbehörde empfiehlt: „Wenn es keine sicheren Behandlungsoptionen gibt und eine Behandlung nicht aufgeschoben werden kann, sollte das in Frage kommende Medikament nicht als kontraindiziert bewertet werden“. Doch genau dies machen viele Hersteller pauschal. Dies führt dazu, dass der Arzt bei einer Schwangeren die meisten Mittel off-label anwendet. So lange keine absolute Kontraindikation ausgesprochen wird, ist dies rechtlich unbedenklich. Die Klassifizierung von Nifedipin verdeutlicht das Problem. Zur Tokolyse wird neben Betasympatholytika zunehmen dieser Calciumantagonist angewendet. Unter 4.3 der Fachinformation ist das Pharmakon „kontraindiziert in der Schwangerschaft“. Die Hoffnung, dass unter 4.6 diese Aussage relativiert wird, erfüllt sich zwar mit dem Zusatz „bei vitaler Indikation“, aber dies ist dennoch nicht zielführend. Da andere Tokolytika zur Verfügung stehen, ist es strittig, ob eine Tokolyse die Kriterien einer vitalen Indikation erfüllt. Dabei liegt für jeden Fall eine Einzelfallentscheidung vor. Ob eine gleichwertige therapeutische Alternative existiert entscheidet der Arzt unter Berücksichtigung der Neben- und Wechselwirkungen. Der Gesetzgeber fordert im Falle einer off-label-Anwendung eine „Unbedenklichkeit“. Dies ist jedoch relativ im Vergleich zu anderen Pharmaka oder zu den Folgen einer nicht gestarteten Therapie zu betrachten. Im sog. „Aciclovir-Urteil“ hat das Gericht sogar so geurteilt, dass ein Arzt verpflichtet ist, ein nicht zugelassenes Arzneimittel dann zu verordnen, wenn für eine behandlungsbedürftige, schwerwiegende Erkrankung keine zugelassenen Medikamente zur Verfügung stehen.
Da Arzneimittel nicht an schwangeren Probanden getestet werden, stützt sich das Datenmaterial auf Meldungen und Zufallsbefunde. Dies erklärt auch, dass die Datenlage, gerade länderübergreifend, nicht homogen ist. Dies sei am Beispiel Paracetamol zu verdeutlichen. Die Wissenschaftler von Embryotox sehen Ibuprofen und Paracetamol als Schmerzmittel der Wahl in der Schwangerschaft. „Nach heutigem Wissen erhöht Paracetamol das Fehlbildungsrisiko nicht. Anfänglich wurde aufgrund einzelner Fallberichte ein teratogenes Potenzial beim Menschen vermutet. Auch in den vergangenen Jahren wurden gelegentlich toxische Auswirkungen auf das Ungeborene diskutiert, beispielsweise Gastroschisis, wenn die Mutter Kombinationspräparate mit Pseudoephedrin eingenommen hatte. Keines dieser Verdachtsmomente wurde bestätigt. Dies gilt auch für den kürzlich behaupteten Zusammenhang zwischen einer Paracetamoleinnahme am Ende des ersten Trimenon oder zu Beginn des zweiten und dem Auftreten eines Hodenhochstands. Die betreffenden Ergebnisse sind widersprüchlich, beruhen auf kleinen Fallzahlen in Studien mit problematischer Methodik und können nicht plausibel erklärt werden“.
Das Bundesinstitut für Arzneimittel und Medizinprodukte ist da etwas strenger: Es rät, Paracetamol in der Schwangerschaft "nur bei dringender Notwendigkeit" anzuwenden. Einige neuere Studien legten den Schluss nahe, dass Paracetamol in der Schwangerschaft zum Hodenhochstand beim Neugeborenen führt. Diese Anomalie kann Auswirkungen auf die spätere Fruchtbarkeit haben. Aber auch dieser Zusammenhang ist nicht zweifelsfrei nachgewiesen. Die Europäische Arzneimittelagentur EMA sieht Warnungen auch noch nicht ganz ausgeräumt: „Paracetamol darf als einziges Analgetikum während der gesamten Schwangerschaft eingenommen werden. Diskutiert wird, ob die Einnahme des Mittels bei Kindern die Entwicklung von Asthma begünstigt. Studien kommen zu unterschiedlichen Ergebnissen. Die EMA sieht den Zusammenhang allerdings nicht belegt. Ganz anders die Konklusion der dänischen COPSAC-Studie (Copenhagen Prospective Studies on Asthma in Childhood), die in einer aktuellen Auswertung zu dem Schluss kommen, dass ein Zusammenhang von der Einnahme von Paracetamol im Kindesalter und der Asthmaprävalenz besteht. „ASS und Paracetamol sind aus Tradition auf dem Markt, weil schon die Großmutter darauf vertraute. Richtig überprüft hat sie keiner“, sagt Kay Brune, Professor an der Universität Erlangen gegenüber FOCIS Online. „Beide Wirkstoffe sind patentfrei, das heißt, kein Hersteller will die Kosten für weitere wissenschaftliche Analysen aufbringen, von denen dann auch die Konkurrenten profitieren würden.“ Paracetamol solle abgeschafft werden, findet Brune.
Bei der Art der Schädigung wird u.a. zwischen teratogen, fetotoxisch und embryotoxisch unterschieden. Aus dem Altgriechischen abgeleitet, bedeutet Te´ras = Ungeheuer und ge´nesis = Entstehung. Die Fehlbildungen beim Embryo entstehen dabei durch äußere Einwirkungen wie Medikamente, Chemikalien, Viren oder ionisierende Strahlung. Der Gesetzgeber verwendet den Begriff reproduktionstoxisch. In diese Gruppe gehören u.a. Alkohol, Vitamin-K-Antagonisten, Retinoide, Tabakrauch und Thalidomid. Unter den Viren sind es u.a. Röteln, Zytomegalie, HIV und Hepatitis-B. Je nach Alter der Leibesfrucht wird zwischen embryo- und fetotoxisch differenziert. Schwangere sind nicht nur pharmakologisch sondern auch von der Arzt-Patienten-Kommunikation ein komplexes Klientel. Nehmen Sie sich als Arzt die Zeit, die Problematik der Warnungen im Beipackzettel zu thematisieren. Anderenfalls wird die Patientin in der Apotheke oder von zu Hause „Alarm“ schlagen.