In Aachen werden seit Anfang September kostenlose Jodtabletten an Bürger verteilt. Dahinter steckt die Angst vor einem Atomunfall im belgischen Kernkraftwerk Tihange. Die Verteilung führt schon jetzt zu einer erhöhten Risikowahrnehmung in der Bevölkerung.
Bereits im Jahr 2012 haben Ingenieure im belgischen Kernkraftwert Tihange unzählige feine Risse im Reaktorbehälter entdeckt. Anfang 2016 mussten sie zugeben, dass die Sicherheit der Anlage stärker beeinträchtigt ist, als man bisher angenommen hatte. Sollte es tatsächlich zum Atomunfall kommen, würde mit Westwind radioaktives Jod-131 als Spaltprodukt relativ schnell ins benachbarte Aachen transportiert. Nuklearmediziner empfehlen deshalb, im Katastrophenfall eine große Menge Iodid aufzunehmen, um die Resorption von Jod-131 zu verringern und das Risiko späterer Schilddrüsenkarzinome zu minimieren: eine Lehre aus Tschernobyl. Katastrophenschutz-Experten warnten jedoch, es könne zu Verzögerungen bei der Verteilung von Tabletten kommen. Chemisch korrekt enthalten sie ein leicht lösliches Iodid, allerdings ist oft von Jod die Rede.
Kommt es tatsächlich zu einem Störfall, rechnen Experten je nach Wetterlage bereits drei Stunden später mit Radionukliden in Aachen. Ein Abregnen der radioaktiven Wolke ist in der Eifel und dann wieder östlich von Köln am Fuße des Bergischen Landes zu erwarten. Genau hier wird es schwierig: „Die WHO empfiehlt 130 Milligramm als Einmalgabe ein bis zwei Tage vor Eintreffen der radioaktiven Wolke“, schreibt Professor Helmut Schatz von der Deutschen Gesellschaft für Endokrinologie in seinem Blog. „Drei Stunden nachher hat sie nur noch 50 Prozent, zehn Stunden später keine Wirkung mehr. Noch später kann sie sogar schaden, da dann das durch die Atmung schon aufgenommene radioaktive Jod langsamer ausgeschieden wird.“ Über den Sinn und Unsinn der Einnahme von Jodtabletten berichtete DocCheck bereits im Sommer 2016 ausführlich.
„Je nachdem wie das genaue Szenario aussieht, haben wir ganz große Zweifel, dass wir es schaffen, Iodtabletten rechtzeitig zu verteilen“, befürchtet Markus Kremer. Er ist als Verteilungskoordinator für die Ausgabe zuständig. Ausgabestellen müssten umgehend eingerichtet werden, „und das in einer Zeit, wo nicht nur geringe Unruhe entsteht“. Deshalb hat sich Aachen entschieden, allen Bezugsberechtigten, sprich Bürgerinnen und Bürgern bis 45, kostenlos Tabletten mit nach Hause zu geben. Personen bis einschließlich 12 Jahren erhalten eine Tablette. Jugendliche, Erwachsene, Schwangere und Stillende bekommen zwei Tabletten. Über das Bürgerportal erhalten Berechtigte nach Angabe ihrer Daten einen Bezugsschein für öffentliche Apotheken.
Geht es tatsächlich nur um vorbeugenden Katastrophenschutz? „Unsere Absicht ist, uns so gut es geht auf den atomaren Ernstfall vorzubereiten“, so Kremer. „Dass die Diskussion um eine Schließung von Tihange dadurch befördert wird, ist ein positiver Nebeneffekt.“ Joachim Funke, ein Psychologe aus Heidelberg, ergänzt: „Mit der Verteilung von Jodtabletten erhöht sich die Risikowahrnehmung der Bevölkerung, weil die Behörden ja offensichtlich den Eindruck haben, dass sie ihre Strategie ändern müssen.“ Je nach Typ reagieren die Menschen unterschiedlich auf die Situation: Die einen würden mehr grübeln, die anderen meinten, sie hätten mit den Jodtabletten alles unter Kontrolle. „Aber das ist nur eine Scheinkontrolle. Denn mit den Jodtabletten habe ich ja nicht wirklich Kontrolle über das Geschehene“, so Funke weiter. Die Apothekerkammer Nordrhein (AKNR) versucht indes, Einwohner objektiv zu informieren. „Hochdosierte Kaliumiodid-Tabletten (...) sind keine universell wirksamen, risikoarmen Strahlenschutztabletten“, heißt es in einer Mitteilung. Die Präparate böten keinen Schutz gegen andere Nuklide wie Caesium-137, Strontium-90 oder Plutonium. Gleichzeitig warnen Apotheker vor der unbedachten Einnahme ohne Aufforderung: „Die Arzneimittelrisiken einer hochdosierten Kaliumiodid-Gabe sind um ein Vielfaches höher als die Jod-Supplementation zur Prophylaxe bzw. Behandlung einer Jodmangelstruma.“