Viele Asperger-Patienten, die unter einer Form von Autismus leiden, besitzen Fähigkeiten, die andere nicht haben: Akribie beim Bearbeiten langer Zahlenkolonnen und hohe Konzentration über viele Stunden. Immer mehr Firmen werden auf diese Talente aufmerksam.
Vor einigen Wochen verkündete einer der großen DAX-Konzerne, dass er bis zum Ende dieses Jahrzehnts 650 Menschen mit Autismus einstellen wolle. Beim Software-Entwickler SAP sollen Autisten als Softwaretester, Programmierer und Spezialisten für Datenqualitätssicherung zum Zuge kommen.
Jenseits der Freude der Selbshilfegruppe über diese Tatsache, stellt sich aber für viele die Frage: Ist das lediglich eine karitative Aktion, gut für den Ruf des Unternehmens und die Behindertenquote, oder stecken dahinter auch kaufmännische Überlegungen? Friedrich Nolte von „Autismus Deutschland“ hat bereits angekündigt: „Wir werden sehr genau drauf aufpassen, dass sie diese Ankündigung auch wahr machen und dass sie diese Arbeiter nicht ausbeuten.“ Gegen den Verdacht spricht die Zusammenarbeit von SAP mit der dänischen Firma „Specialisterne“, spezialisiert auf die Vermittlung von Autisten an interessierte Arbeitgeber. Der Firmenchef Thorkil Sonne gründete das Unternehmen, als die Ärzte bei seinem dritten Kind diese Störung feststellten. „Was gäbe es, um Lars zu einem glücklichen Menschen zu machen, wenn wir nicht mehr da sind?“ sagte er kürzlich in einem Interview. „Wenn andere seine Fähigkeiten schätzen und seine besondere Persönlichkeit in einer sinnvollen und produktiven Arbeit respektieren, dann könnten wir mit ruhigem Gewissen die Welt verlassen.“ Die zur Zeit rund 50 Angestellten in verschiedenen Ländern, in denen „Specialisterne“ tätig ist, sind daher keine billigen Leiharbeiter, sondern hochbegabte Fachkräfte, die sich die Firma und ihr Personal teuer bezahlen lassen. Dass das funktioniert, zeigten nicht nur Pilotversuche mit einigen wenigen Autisten in den SAP-Niederlassungen in Indien und Irland, sondern auch Erfolge bei Microsoft, Nokia oder SAP-Konkurrent Oracle.
In einem Artikel in „Nature“ vor etwa zwei Jahren veröffentlichte Laurent Mottron, Professor für Psychiatrie und kognitive Neurowissenschaften an der kanadischen Université de Montréal unter anderem seine Erfahrungen mit autistischen Mitarbeitern in seinem Labor. Keiner davon, so schreibt er in seinem Artikel, sei ein Savant, also ein Mensch mit einer außerordentlichen Spezialbegabung. Dennoch seien etliche aus seinem Team anderen Gesunden etwa beim Durcharbeiten langer Manuskripte oder bei der Verwaltung von Datenbanken überlegen. Eine seiner Kolleginnen kenne den Inhalt von etwa 8000 Literaturstellen, die sie in ihrem Computer gespeichert habe. Gerade, wenn es um die Wahrnehmung von Mustern in Texten, Daten oder auch bei Musikstücken gehe, könnten viele Autisten ihre hohe Begabung dafür ausspielen. Mit der Anpassung an wechselnde Umgebungen und geänderte Pläne, aber auch mit der Kommunikation mit anderen hätten sie dagegen Probleme.
In Berlin beschäftigt „Auticon“ Menschen mit Asperger-Syndrom, einer schwächer ausgeprägten Form des Autismus. Fehler in Computer-Quellcodes oder in Handbüchern finden sie meist viel schneller und zuverlässiger als geübte „normale“ Korrekturleser. Je nach Diagnosekriterien schwanken die Schätzungen zur Häufigkeit von Autismus in der Gesellschaft von 1: 1000 bis 1:300 - wahrscheinlich mit hoher Dunkelziffer. Männer sind rund fünf mal häufiger als Frauen betroffen, bei denen sich die Krankheit auch anders ausprägt. Oft dauert es jedoch sehr lange, bis Ärzte den Hintergrund eines „komischen“ Verhaltens eines Kindes, eines Jugendlichen und zuweilen auch erst eines Erwachsenen mit der Krankheit in Verbindung bringen. Savants, Menschen mit hochentwickelter Spezialbegabung im Bereich Mathematik , graphischen oder auch kognitiven Fähigkeiten stammen etwa zu Hälfte aus der Autistengruppe, zur andern Hälfte sind sie mit anderen neurologischen Störungen assoziiert. Noch immer ist aber unklar, unter welchen Voraussetzungen sich eine solche Spezialbegabung entwickelt. Mit Erfahrungsberichten tun sich Autisten schwer. Die meist nur leicht behinderten Asperger-Patienten scheinen aber wohl weniger ein phänomenales Gedächtnis, sondern eher einen besonderen Blick für bestimmte wiederkehrende Muster und Regeln zu haben.
Von Christine Preißmann, über deren Buch “Mädchen & Frauen mit Asperger“ DocCheck-Autorin Sonja Schmitzer vor etwa einem Monat berichtete, stammt auch das Buch „ Asperger - Leben in zwei Welten.“ Preißmann ist selber von der Krankheit betroffen, erst bei ihrem Medizinstudium nach einer längeren Phase, in der sie unter Depressionen litt, bekam sie die richtige Diagnose. Ein wichtiger Abschnitt in diesem Buch beschäftigt sich mit der Berufswahl. Im Buch kommen etliche Betroffene zu Wort, darunter auch Nicole Höhlriegel, die es wie Preißmann selber geschafft hat, als Ärztin Fuß zu fassen, wenn auch mit großen Problemen. Dennoch, so schreibt Höhlriegel, „habe ich wohl zu Tumorpatienten, die von außen oft als schwierig angesehen werden, einen besonderen Draht“. „Checkliste: Einen autismusgerechten Arbeitsplatz schaffen“, heißt eines der Kapitel. Bewerbungsgespräche der üblichen Art und Großraumbüros bieten auch talentierten Betroffenen kaum eine Chance. Besser ist eine stark eingeschränkte Teamarbeit, klare Anweisungen ohne Floskeln, aber auch Toleranz gegenüber dem Arbeitnehmer, was seine Schwächen etwa hinsichtlich „Small Talk“ oder modischen Interessen angeht. Mit gut planbaren und strukturierten Arbeitsabläufen können jedoch Autisten ihre ganz besonderen Fähigkeiten am besten entwickeln. Ihre Pünktlichkeit und Zuverlässigkeit sind meist sehr viel stärker als „Social Skills“ ausgeprägt. Entscheidungen von Autisten, so fand Benedetto de Martino vom amerikanischen CalTech-Forschungsinstitut vor einigen Jahren heraus, beruhen sehr viel mehr auf rationalen Erwägungen als auf Gefühlen vieler „Bauchentscheider“. In vielen Bereichen ist genau das erwünscht.
Noch immer gibt es aus dem Bereich der Molekularbiologie keine schlüssige Erklärung, warum und wie Autismus entsteht. Wahrscheinlich, so vermuten Experten, sind drei bis zehn oder mehr Gene oder mehr daran beteiligt - dazu kommen wohl auch noch eine ganze Reihe an Umweltfaktoren. Fest steht, dass die Verschaltung von Wahrnehmung, Gedächtnis und Emotionen im Gehirn von Autisten anders als bei der Mehrheit der Menschen aussieht. Kürzlich erregte auch eine Studie von Deborah Fein von der University of Connecticut Aufsehen. Sie untersuchte Autisten im Alter zwischen acht und einundzwanzig Jahren, die in ihrer frühen Kindheit typische Symptome zeigten und sich jetzt bei den aktuellen Tests kaum mehr von den untersuchten Kontrollpersonen unterschieden. Sie hatten - anders als etwa eine Gruppe hochintelligenter Autisten - auch ihre Schwächen im Bereich Kommunikation und Gefühlswahrnehmung überwunden. Die Krankheit scheint also auch nach der Ansicht anderer Wissenschaftler kein lebenslanges Stigma mehr zu sein. Aber auch bei jener (geheilten?) Gruppe spielt ein optimales soziales Umfeld eine große Rolle. Die Zeit scheint vorbei, dass diese Menschen ihre Lebenszeit in Behinderteneinrichtungen ohne wirklich sinnvolle, erfüllende und auch lukrative Arbeit verbringen mussten. In etlichen Jobs sind Autisten, die einfach nur anders denken und begreifen, den sogenannten „Normalen“ überlegen. So schreibt die englische „Financial Times“ am 22. Mai dieses Jahres zur Ankündigung von SAP: „Firmen sollten sehen, was ihre Einstellungspolitik aus dieser Sache lernen kann. Und Regierungen sollten sich fragen, warum Privatunternehmen dort erfolgreich sind, wo sie selber scheitern, für beide gilt: Talent ist eine zu wertvolle Sache, um sie zu vergeuden.“