Forschen im stillen Kämmerlein war gestern: Mit dem Netzwerk ResearchGate gelingt die Zusammenarbeit über alle Grenzen hinweg. Der Gründer hat kürzlich 35 Millionen Dollar zum weiteren Ausbau an Land gezogen. Jetzt macht er alteingesessenen Verlagen Konkurrenz.
Eigentlich wollte sich Dr. Ijad Madisch, Arzt und Informatiker, mit Kollegen über Fachthemen austauschen. Das erwies sich als überraschend schwierig: Keines der bekannten Portale eignete sich und war gleichermaßen intuitiv zu bedienen wie Facebook. Sein Professor aus Hannover bewertete entsprechende Wünsche nur als „Firlefanz“, und so ging Madisch nach Harvard. Dort rannte er mit seinen Ideen offene Türen ein. Rajiv Gupta beispielsweise erfuhr nur durch Zufall, dass Kollegen in Deutschland an ähnlichen Fragestellungen forschen wie er selbst. Zusammen mit Horst Fickenscher und Dr. Sören Hofmayer gründete Madisch deshalb ResearchGate mit Sitz in Berlin, weitere Büros sind in Cambridge. Eine Erfolgsgeschichte: Laut Konzernangaben nutzen mittlerweile mehr als drei Millionen Menschen das Netzwerk. Die Mehrheit kommt aus Amerika, Deutschland, Großbritannien sowie aus Indien. Zwar sind Portale wie Academia, BiomedExperts, Mendeley oder Nature Network in mancherlei Hinsicht ähnlich gestrickt, doch gibt es entscheidende Unterschiede.
ResearchGate verfolgt gleich mehrere Ziele. Es will Informationsflüsse effizienter gestalten, die Zusammenarbeit über Grenzen des eigenen Fachgebiets fördern und Forschung auch ökonomisch effizienter machen, da Wissenschaftler stärker als bisher von anderen Ideen profitieren. Madischs Ziel war weniger ein „Xing für die akademische Welt“, sondern eher eine virtuelle „Res publica literaria“, eine „Gelehrtenrepublik“. Kollegen, die sich stärker vernetzen möchten, melden sich kostenfrei bei ResearchGate an. Neben den üblichen Basisdaten müssen sie nachweisen, für eine bekannte Organisation zu arbeiten – über ihre dienstliche E-Mail-Adresse. Anschließend lassen sich Publikationen und Arbeitsgebiete dem eigenen Profil zuordnen. Über einen Live Feed sehen Mitglieder, was sich in ihrem Netzwerk so tut, etwa neue Fragen oder Antworten. Für Forschungseinrichtungen bietet ResearchGate sogar nach außen abgeschlossene Subnetze an. Die Max-Planck-Gesellschaft hat bereits ihr Interesse bekundet, um ihre Institute stärker zu vernetzen.
Damit nicht genug: Madisch bläst zum Sturmangriff auf Wissenschaftsverlage. In deren Zeitschriften publizieren Forscher ohnehin nur Erfolge – was für die Community einen begrenzten Lerneffekt hat. Egal, ob Rohdaten, erfolgreiche oder gescheiterte Experimente – bei ResearchGate können User alles veröffentlichen und Feedback ihrer Fachkollegen einholen. Auch ein Punktesystem zur Bewertung wurde jetzt umgesetzt. „Der RG Score ermöglicht Echtzeit-Feedback von den Personen, die es betrifft: von den Wissenschaftlern selbst“, erklärt Madisch. Wer viel hochlädt, sich rege an Diskussionen beteiligt und von Fachkollegen oft mit Lesezeichen markiert wird, hat den besseren Score. Und nicht zu vergessen: Anders als bei kommerziellen Zeitschriften sind Basisdienste rund um Lesen und Publizieren kostenlos. http://www.youtube.com/watch?v=RWCgba_H8BE
Doch die Konkurrenz schläft nicht – Elsevier beispielsweise hat sich das Forschernetzwerk Mendeley geschnappt. Für ResearchGate lautet das Gebot der Stunde, Gelder zu akquirieren und sich weiterzuentwickeln. Es gibt bereits kostenpflichtige Premiumleistungen wie Stellenausschreibungen; eine Börse mit Laborgeräten oder wissenschaftlichen Services soll bald folgen. Doch der größte Coup gelang Madisch im Juni 2013: Mehrere Investoren, unter anderem Microsoft-Gründer Bill Gates, die Dragoneer Investment Group, Thrive Capital, Benchmark und Founders Fund, stiegen bei ResearchGate mit rund 35 Millionen US-Dollar ein. Jetzt steht großen Plänen nichts mehr im Wege. „Unser Ziel ist es, die Wissenschaft aus dem Elfenbeinturm zu befreien. Wir wollen Wissen digitalisieren, zugänglich machen und somit den Fortschritt vorantreiben“, erklärt Ijad Madisch. Um neue Erkenntnisse aus der Forschung schnellstmöglich zu verbreiten, will er digitale Infrastrukturen weiter ausbauen. Dazu gehören neue Wege des Publizierens über dynamische Komponenten, ähnlich bekannten Impact Factors. Mittlerweile hat ResearchGate eine kritische Masse erreicht, die auch Politikern nicht verborgen bleibt. Bundeskanzlerin Dr. Angela Merkel (CDU) besuchte Madisch in Berlin. Sie sprach von „einem Blick in die Zukunft“, die schon Realität geworden sei. Trotz aller Euphorie sehen Kritiker einige Schwachstellen am Konzept.
Das beginnt schon beim Anmelden: Wer keiner bekannten Forschungseinrichtung angehört, muss draußen bleiben. Ein freier Zugang, auch für Laien, gilt jedoch als Grundvoraussetzung für Open Access. Wissenschaftler kritisieren vor allem die Bewertung ihrer Leistungen. Einerseits tragen Paper, die außerhalb des Portals veröffentlicht wurden, nicht zum RG Score bei. Andererseits führen gelegentliche Fragen beziehungsweise Antworten – inklusive einer Handvoll Followers – zu exzellenten Werten. So erzielte die Bloggerin Beatrice Lugger mit geringem Aufwand einen Punktestand von 10,84. Sie erklärt, rund 95 Prozent aller User schnitten schlechter ab. Darüber hinaus sehen Kollegen aktuelle Geldquellen und Investoren äußerst kritisch. „Das ideale Reputationssystem muss von Wissenschaftlern für Wissenschaftler geschaffen werden, nicht von Unternehmen“, stellt Privatdozent Dr. Björn Brembs, Neurobiologe aus Berlin, klar. Und Bradley Voytek, Neurowissenschaftler an der University of California, San Francisco, zweifelt an der Akzeptanz sozialer Netzwerke: „Forscher sind ziemlich konservativ, wenn es um die Einführung neuer Technologien geht, weil Zeit und Aufmerksamkeit Mangelware sind.“
Von solchen Unkenrufen lässt sich Ijad Madisch nicht beirren. Er wünscht sich, Kommunikationswege kürzer, effizienter und schneller zu gestalten. Sein Traum: mit ResearchGate „irgendwann mal den Nobelpreis gewinnen“.