Nahtoderlebnisse geben der Menschheit seit Jahrhunderten Rätsel auf. Eine aktuelle Studie, die erstmals an Tieren untersuchte, was in einem sterbenden Gehirn vor sich geht, könnte nun mehr Klarheit in die hitzige Diskussion bringen.
Dunkle Tunnel, helles Licht und Begegnungen mit göttlichen Wesen – das alles waren für den renommierten Harvard-Wissenschaftler Eben Alexander Fantasien und Einbildungen, die der Neurochirurg oft von seinen Patienten zu hören bekam – bis er Ende 2008 selbst eine Nahtoderfahrung machte. Bereits am Morgen litt er unter schlimmen Kopfschmerzen, auf die ein epileptischer Anfall folgte. Alexander verlor das Bewusstsein und fiel ins Koma. Im Krankenhaus diagnostizierten seine Kollegen eine bei Erwachsenen praktisch unbekannte Form von Meningitis. Als Colibakterien das Gehirn des Neurochirurgen angriffen, lagen seine Überlebenschancen im einstelligen Prozentbereich. Sieben Tage lang verbrachte der Arzt im Koma, während hohe Dosen an Antibiotika die schädlichen Bakterien in seinem Körper töten sollten. Der Neocortex, der Sinneseindrücke verarbeitende Teil der Großhirnrinde, zeigte keinerlei Reaktionen mehr. Und dennoch konnte sich Alexander später genau erinnern, was er in jenen Tagen empfunden hat. Seine Nahtoderfahrungen schilderte er in einem Buch mit dem Titel „Proof of Heaven“, das im März diesen Jahres auch auf Deutsch unter dem Titel „Blick in die Ewigkeit“ erschienen ist. In seiner Grenzerfahrung zwischen Leben und Tod kommen sowohl eine ziemlich übel anmutende „Unterwelt“, aber auch helles Licht, Blumen, Musik und Engel vor. Seine Nahtoderfahrungen decken sich weitgehend mit Erlebnissen, die ungefähr jeder fünfte Mensch – unabhängig von Alter, Geschlecht und kultureller Prägung – nach einem Herzstillstand erlebt.
Immer wieder berichten „Rückkehrer“ von tiefgreifenden Gefühlen wie Frieden, Liebe und Glück bei ihrem Übergang vom Leben zum Tod. Auch Erlebnismuster wie der Blick in einen „Tunnel“ mit einem gleißendem Licht am Ende, das Verlassen des eigenen Körpers, Begegnungen mit Toten oder übernatürlichen Wesen, oder eine Rückschau auf das eigene Leben gehören zu häufig erlebten Nahtoderfahrungen. Nur vereinzelt berichten Betroffene auch von negativen Bildern und Gefühlen. Oft werden die Erlebnisse an der Grenze zwischen Leben und Tod als extrem lebhaft, klar und ungewöhnlich reell geschildert. Unter Wissenschaftlern werden diese Erfahrungen allerdings kontrovers diskutiert, da viele eine bewusste Wahrnehmung des menschlichen Gehirns zu diesem Zeitpunkt ausschließen.
Nach einem Herzstillstand ende die Hirnaktivität, da das Gehirn nicht mehr Nährstoffen versorgt werde, so die Argumentation. In diesem Zustand seien koordinierte Abläufe nicht mehr möglich. Nahtoderlebnisse führen die Verfechter dieser Annahmen zurück auf Sauerstoffmangel, Stress bedingte Übererregung bestimmter Hirnareale und die Ausschüttung von natürlichen Substanzen, die eine ähnliche Wirkung wie Drogen haben. Eine aktuelle Studie, die erstmals an Tieren untersuchte, was in einem sterbenden Gehirn vor sich geht, könnte nun mehr Klarheit in die hitzige Diskussion um Nahtoderbenisse bringen.
In ihrer aktuellen Publikation im Fachmagazin Proceedings of the National Academy of Sciences schreiben Wissenschaftler der Michigan University: „Falls Nahtoderfahrungen ein Resultat von Hirnaktivität sind, sollten diese kurz nach dem Ende der Blutversorgung des Gehirns messbar sein.“ Der Hirnforscher Jimo Borjigin von der Universität Michigan und seine Kollegen untersuchten ihre These anhand von Hirnaktivitäten von neun Ratten im Wachzustand, unter Narkose und nach einem Herzstillstand. Denn in grundsätzlichen Strukturen ist die Hirnaktivität von Ratten und Menschen durchaus vergleichbar. Bewusstes Erleben und Denken lässt sich bei Ratten wie Menschen durch bestimmte Merkmale der Hirnströme im Elektroenzephalogramm (EEG) ausmachen, die dann entstehen, wenn das Gehirn Signale zwischen verschiedenen Hirnarealen austauscht. Synchronisierte und verstärkte Gammawellen, langsamere Thetawellen, oft gekoppelt mit Gammawellen sprechen für einen solchen Zustand. Mit Hilfe von Elektroden, die die Wissenschaftler unter die Schädeldecke der neun Ratten implantiert hatten, verfolgten sie zunächst die Hirnströme während normaler Wachperioden der Tiere. Dann folgten Messungen von narkotisierten Tieren. Die entscheidenden Messwerte erhielten die Forscher, indem sie den Tieren eine Kaliumchlorid-Lösung injizierten, die einen Herzstillstand auslöst. Die Hirnaktivität der sterbenden Ratten zeichneten die Forscher noch weitere 30 Minuten nach der unterbrochenen Blutversorgung des Gehirns der Tiere auf.
Zur großen Überraschung der Wissenschaftler stieg die Intensität einiger Gammawellen etwa 10 Sekunden nach dem Herzstillstand der Tiere stark an. Nach weiteren 20 Sekunden zeigten die Tiere ein Hirnstromprofil, das auf ein überaus aktives Gehirn schließen lässt: So zeigten beispielsweise Hirnströme zwischen 25 und 55 Hertz Werte an, die über denen im Wachzustand der Tiere lagen. Auch die Synchronizität der Gammawellen verstärkte sich zu diesem Zeitpunkt – ein Zustand, der mehr als 15 Sekunden lang anhielt und in den auch die langsameren Thetawellen mit einstimmten. Erst nach dieser Aktivitätswelle ließen die Hirnströme langsam nach und versiegten schließlich ganz. Einige Signale des Gehirns waren also in der Nahtodphase sogar aktiver als im Wachzustand. Eine mögliche Erklärung für Nahtoderlebnisse? „Durchaus“, so die Wissenschaftler. Denn ihre Messungen deuten darauf hin, dass die elektrische Aktivität im Gehirn der Ratten nach einem Herzstillstand nicht einfach langsam verebbt, sondern noch kurzzeitig zu einer organisierten Aktivität in der Lage zu sein scheint. „Dieser starke Aktivitätsschub könnte der Auslöser für als hochgradig lebensecht und real empfundenen Erfahrungen am Übergang vom Leben zum Tod sein“, schreiben die Wissenschaftler.
Der Neurologe Michael Schroeter von der Universitätsklinik Köln sieht in der Studie zwar ebenfalls einen attraktiven Erklärungsansatz für Nahtoderlebnisse. Der rasche Aktivitätsanstieg erklärt sich für ihn durch den fehlenden Input von außen, ähnlich wie ein Motor, der im Leerlauf hochdreht. Die fehlenden Reize von außen würden den Hirnströmen zudem mehr Rhythmik verleihen. Ein Beweis, dass die Hyperaktivität des Gehirns auch die Ursache von Nahtoderfahrungen sei, lieferten die Ergebnisse aber nicht.