Die Zahl der Operationen steigt. Vor allem in den Fachbereichen rund um die Herzchirurgie und den Bewegungsapparat. Es wird schnell und viel operiert. Zu viel? Experten kritisieren: Operationen werden besser vergütet als konservative Behandlungen.
Ein falscher Sprung, eine Überdrehung, und schon war es passiert: „Einen Moment fühlte ich nichts, doch dann tat es plötzlich innen im Knie sehr weh“, sagt Jonas Mattner*. „Ich konnte nicht auftreten und habe es kaum nach Hause geschafft.“ Mattner, damals 24, leidenschaftlicher Handballspieler, ging sofort zum Arzt. Der diagnostizierte einen Riss des Innenbands im linken Kniegelenk. „Er riet zur Operation“, sagt Mattner, und bekam schnell einen Termin. „ Nach wenigen Tagen wurde ich wieder entlassen.“ Was folgte, waren Monate der Krankengymnastik und Koordinationstraining, bis das Knie wieder belastbar war. „Im Nachhinein ärgere ich mich, dass ich keine zweite Meinung eingeholt habe“, sagt Mattner, „später habe ich gehört, dass die Operation nicht unbedingt nötig gewesen wäre und das Knie auch anders und vielleicht sogar schneller wieder verheilt wäre. Das hätte ich zumindest gern gewusst.“ Wie Mattner geht es vielen Patienten in Deutschland. Es wird schnell und viel operiert. Zu viel?
Fest steht, dass die Zahlen steigen – und zwar rasant. Um 30 Prozent nahmen laut Statistischen Bundesamt (Destatis) die Operationen innerhalb von acht Jahren in der Zeit von 2005 bis 2013 zu, zuletzt waren es 15,8 Millionen Eingriffe. Am häufigsten betroffen waren mit einem Anstieg von 44 Prozent die Bewegungsorgane. Allein 290.000 Menisken und Gelenkknorpel kamen unter das Skalpell, 230.000 Mal wurden Wirbelsäulen, 210.000 Mal Hüften und 155.000 Mal Knie operiert, etwa 100.000 Mal eine Schulter. Auch im internationalen Vergleich liegt Deutschland weit vorn bei der Zahl der Operationen. Die oft kritisierten Knieprothesen wurden laut einer OECD-Statistik von 2014 bei 206 Patienten pro hunderttausend Einwohner im Jahr 2012 eingesetzt. Damit belege die Bundesrepublik den fünften Platz hinter Österreich, der Schweiz, Finland und den USA. Im Durchschnitt werde in den OECD-Ländern nur halb so oft operiert wie hierzulande, die Studie.
All diese Zahlen und Daten legen den Schluss nahe, dass tatsächlich zu viel operiert wird. Doch der Teufel steckt im Detail – nicht überall wird gleich viel, wenig oder mit steigender Tendenz chirurgisch eingegriffen. So ist die Zahl der Major-Amputationen seit 2005 um 32 Prozent gesunken, während sich die Anzahl peripheren endovaskulären Prozeduren sich mit einem Anstieg von 82 Prozent fast verdoppelt hat, berechnet der Berufsverband der Deutschen Chirurgen (BDC). Klaus-Peter Günther rät zu mehr Differenzierung bei der Frage, ob zu viel oder zu wenig operiert werde. „Die OECD sieht überdurchschnittliche Eingriffszahlen in Deutschland, nicht nur bei künstlichen Hüft- und Kniegelenken, sondern auch bei Leistenhernien- und Gallenblasen-Operationen oder bei Interventionen in der Herzchirurgie“, sagt Klaus-Peter Günther vom Uniklinikum Dresden, der sich auch auf dem Hauptstadtkongress Medizin und Gesundheit im Juni kritisch äußerte. „Aus Sicht der Deutschen Gesellschaft für Orthopädie und Orthopädische Chirurgie (DGOOC) ist die Datenbasis für künstliche Hüft- und Kniegelenke nicht zuverlässig verwertbar“, so der Orthopäde. „Wegen unterschiedlicher Einschlusskriterien, Berechnungsmethoden in den einzelnen Ländern, unterschiedlichen Versicherungssystemen sowie unterschiedlichen Prozeduren und vor allem einer fehlenden Altersadjustierung der Zahlen ist die Vergleichbarkeit in Zweifel zu ziehen.“
Günther zieht eine Publikation der Versorgungsforscher Verena Finkenstädt und Frank Niehaus von 2015 hinzu: „Sie haben nachgewiesen, dass die Rate der Eingriffe in der Endoprothetik nur noch im Durchschnittsbereich vergleichbarer Europäischer Länder liegt, wenn man das relativ höhere Durchschnittsalter der deutschen Bevölkerung mit in die Berechnung von Operationsraten einbezieht.“ Zwangsläufig würden hierzulande wie in allen industrialisierten Ländern die Operationen für Eingriffe im höheren Lebensalter auch in Zukunft steigen, so Günther. „Die Häufigkeit für den Hüft- und Kniegelenkersatz stagnierte zwischen 2012 und 2014, eine leichte Erhöhung 2015 entsprach der normalen altersgemäßen Entwicklung.“ Die Zahl der Operationen steigt in gleichem Maße wie die Bevölkerung altert, sagt IGES-Chef Bertram Häussler. Auch IGES-Chef Chef Bertram Häussler sagt, die Anzahl von Gelenkersatzoperationen des Knies und der Hüfte hätten in den vergangenen zehn Jahren nicht zugenommen: „Die Häufigkeit der Eingriffe folgt dem wachsenden Anteil älterer Menschen. Es fallen rund 40 Prozent der endoprothetischen Hüft- oder Knieersteingriffe in die Altersgruppe der 70- bis 79-Jährigen.“ Diese Schlussfolgerung ergebe sich aus dem vom IGES im September 2016 veröffentlichten „Weißbuch Gelenkersatz“. Häussler nimmt die Hüfte als Beispiel: „Die Zahl der Operationen für den Hüftgelenkersatz hat in der vergangenen Dekade durchschnittlich um 1,4 Prozent jährlich zugenommen. Die Hälfte dieser Operationen betraf 2015 Patienten über 75 Jahre“, sagt der Mediziner und Soziologe.
„Die Zahl der über 75-Jährigen hat in den vergangenen zehn Jahren um drei Prozent jährlich zugenommen, die Zahl der Operationen wuchs um 3,1 Prozent jährlich.“ Auch die OP-Häufigkeit beim Knie sei seit etwa zehn Jahren konstant. „Das heißt, Gelenkersatz-OPs sind hauptsächlich demographiegetrieben und entsprechen der epidemiologischen Erwartung“, so Häussler. Die Bundesrepublik bewege sich bei der Häufigkeit von Operationen in diesem Bereich auf ähnlichem Niveau wie vergleichbare Länder. Auch im Bereich der Gefäßchirurgie ist es wahrscheinlich, dass vor allem demographischer Wandel zu steigenden Operationszahlen führt. Zudem würde der Effekt durch neue Behandlungsverfahren, die nun auch bei älteren Patienten sicher eingesetzt werden können, verstärkt. Angesichts der demographischen Entwicklung werde sich der Trend zu mehr Operationen in der Endoprothetik auch weiter fortsetzen, meint Günther. „Unabhängig davon fällt bei Berechnung von Operationsraten im regionalen Vergleich auf, dass innerhalb einzelner Länder die Operationshäufigkeiten für bestimmte Eingriffe, wie die der Endoprothetik, im regionalen Vergleich zwischen einzelnen Bundesländern um das zwei- bis dreifache variieren“, sagt der Orthopäde, „in Spanien sogar um das Vier- bis Fünffache und in den USA um das Sechsfache. Diese regionalen Unterschiede sind vermutlich die Folge mehrerer Einflussfaktoren, können heute aber noch nicht im Detail erklärt werden.“
Tatsächlich verzeichnet auch das Statistische Bundesamt starke regionale Unterschiede. So nahmen die Zahlen von Operationen zwischen 2005 und 2013 allein in Hamburg um 41 und in Berlin um 39 Prozent zu. Am niedrigsten war die Steigerung in Brandenburg mit 16 Prozent. Die Gründe sind vielfältig: Die ärztliche Versorgung auf dem Land wird schlechter, Universitätskliniken sind oft besser ausgestattet als andere, ärztliches Wissen sammelt sich in Ballungsgebieten. Wie vielfältig regionale Unterscheide sind, zeigt sich am Beispiel von Tonsillektomien bei Kindern. 2010, dies ergab die Studie „Faktencheck Gesundheit“ der Bertelsmann Stiftung, wurden im Saarland mit 105 von 10.000 fast vier Mal so vielen Kindern die Mandeln entfernt wie in Berlin. In manchen Landkreisen wurde jedes 70. Kind operiert, in anderen nur jedes 900. – dabei sind die wissenschaftlichen Daten zum Nutzen der Tonsillektomie bis heute unklar. Anscheinend fällt die Entscheidung aufgrund persönlicher Ansichten und medizinischer Strukturen: In Regionen mit großen HNO-Abteilungen wurde besonders oft operiert. Für kleinere Kliniken sind Tonsillektomien zudem lukrativ. Bei 71 von rund 670 kleinen Kliniken machten sie mehr als zwei Drittel aller Leistungen aus, bei 175 mehr als die Hälfte. Morbidität und der rasch wachsende medizinische Fortschritt führen zu hohen Fallzahlen, so Thomas Bodmer von der DAK. Gewinnstreben und so genannte Fehlanreize sind nach Ansicht vieler Experten der Grund für den Anstieg von Operationen. Das Gesundheitswesen sei so organisiert, dass das Operieren besser vergütet werde als die konservative Behandlung, heißt es bei der Hanseatischen Krankenkasse (HEK). Es werde mehr operiert als nötig, um Umsatz und Gewinn eines Krankenhauses zu steigern. „Die demografische Entwicklung, die daraus folgende Morbidität und der medizinische Fortschritt sind der Grund für den Anstieg der Zahlen“, sagt Thomas Bodmer, Vorstand bei der Deutschen Angestellten-Krankenkasse (DAK). „Diese Einflussfaktoren und Veränderungsraten reichen allerdings nicht aus, um den realen Fallzahlanstieg zu erklären.“ Bodmer glaubt, es gebe auch finanzielle Fehlanreize, die eine Fallzahlausweitung begünstigen könnten. Sein Vorschlag: „Wenn eine bestimmte medizinische Prozedur bei einem Patienten durchgeführt wird, kann ein Krankenhaus ein höheres DRG-Gewicht abrechnen, also einen Basisfallpreis“, sagt Bodmer. „Wie ein Patient behandelt wird, ob konservativ oder operativ, könnte von den damit verbundenen finanziellen Anreizen abhängen, die aus den unterschiedlichen medizinischen Prozeduren resultieren.“
De facto bringen Operationen den Krankenhäusern oft mehr Geld ein als sogenannte konservative Therapien. Ein künstliches Gelenk etwa wird mit Pauschalen zwischen 6.000 und 7.500 Euro vergütet. Darin enthalten sind Aufenthalt, Operation und Material. Auch Bandscheibenvorfälle, die jedes Jahr etwa 100.000 Mal operiert werden, lassen sich zu 80 Prozent durch konservative Methoden verhindern, so die HEK. Zwar ist die Technik so weit fortgeschritten, dass Wirbelsäulenoperationen ohne große Schnitte gewebeschonend gemacht werden können. Nötiger sind sie deshalb nicht. Physio-, Schmerz- und Psychotherapeuten könnten behandeln, Schmerzmittel würden unterstützen, der Patient selbst könnte durch Ernährung und Sport selbst zu seiner Heilung beitragen, dies gilt sowohl für den Rücken als auch für viele andere Bereich des Bewegungsapparats. Dennoch sperren sich die Krankenkassen häufig, solch längere Prozeduren zu bezahlen – auch wenn die Kosten so wesentlich geringer ausfallen. Experten raten, von dem seit 2016 geltenden Versorgungsstärkungsgesetz Gebrauch zu machen, mit dem jeder vor einem Eingriff auf eine zweite Meinung eines unabhängigen Facharztes einholen darf. Zwei von drei Patienten tun dies inzwischen auch. Laut einer Studie der mhplus-Krankenkasse befanden 70 Prozent der Zweitgutachter empfohlene orthopädische Operationen als unnötig. Jonas Mattner ist heute der Meinung, sein Knie hätte auch konservativ behandelt werden können. Ein Kollege aus dem Verein, sagt er, hätte eine ähnliche Verletzung erlitten. „Er hat jeden Tag Krankengymnastik gemacht. Am Ende war er schneller wieder fit, als ich.“ *Name wurde auf Wunsch geändert