3 x täglich eine Tablette - die Fachinformation gibt meist die Menge der Darreichungsformen pro Tag oder aber bezogen auf die Körpermasse in mg/kg Körpergewicht an. Gilt denn wirklich „je schwerer der Patient, desto größer die Dosis?"
Die Adipositasprävalenz steigt stetig an und betrifft aktuell etwa 24 Prozent der Erwachsenen. Übergewichtig sind sogar 67 Prozent der Männer und 53 Prozent der Frauen. Gerade für extrem adipöse Patienten verlangt die Dosierung viel Fingerspitzengefühl. Die Datenlage ist sehr dürftig. Da Adipöse sowieso zu einer Risikogruppe gehören, wird die Pharmakotherapie noch risikoreicher. Die Gesamtmasse des Patienten kann ja überwiegend aus Fett, Wasser oder Muskelmasse bestehen. Diese unterschiedlichen Verteilungsräume bieten einen „Tummelplatz“ für Arzneimittel. Je nach den Eigenschaften eines Pharmakons kann es sich in unterschiedlichen Kompartimenten verteilen. Dies hat einen erheblichen Einfluss auf die Wirkdauer und Stärke eines Arzneimittels. Das Normalgewicht wird nach dem Broca-Index berechnet. Der französische Arzt und Anthropologe Paul Broca definierte im 18. Jahrhundert die Formel: Körpergröße in cm minus 100 = Normalgewicht. Im 20. Jahrhundert wurde das Idealgewicht definiert. Dieses liegt 10 Prozent unter dem Normalgewicht. Der Body-Mass-Index (BMI) wird aus der Körpermasse in kg und der Körpergröße in Metern ermittelt (kg/Körpergröße (m)2. Daraus ergeben sich folgende Adipositas-Grade:
Die Adipositas selbst ist eine eigenständige Erkrankung. Durch Begleiterkrankungen wie Diabetes kann es zu weiteren Änderungen der Arzneistoffwirkung kommen.
Das Verteilungsvolumen für Arzneimittel, die sich im Körperwasser verteilen, ist bei Adipösen um 30–50% erhöht. Das Übergewicht eines Patienten besteht schließlich nicht nur aus Fett. Der Anteil an Sehnen, Muskeln und Gefäßen an der Gesamtmasse ist unbekannt. Bringt ein Patient, ausgehend vom Normalgewicht, 50 Prozent mehr auf die Waage, benötigt er deshalb nicht 50 Prozent mehr Arzneistoff. Bei adipösen Patienten kommt es u.a. zu folgenden pharmakokinetischen und –dynamischen Veränderungen
Die glomeruläre Filtrationsrate und renale Perfusion scheinen bei normal- und übergewichtigen Personen ähnlich zu sein, so dass die Elimination von hydrophilen und extensiv renal eliminierten Arzneistoffen hauptsächlich von der Kreatininclearance abhängig sind. Deshalb werden für Arzneistoffe wie z.B. Piperacillin/Sulbactam, Aciclovir, Cotrimoxazol, Fludarabin, Methotrexat Standarddosierungen bzw. Dosierungen basierend auf dem idealen Körpergewicht (IBW) verwendet. Zahlreiche Eigenschaften des Arzneistoffes bestimmen die Kinetik bei adipösen Patienten: Löslichkeit der Substanz (hydrophil, lipophil), Verteilung im Fettgewebe, therapeutische Breite. Bei Pharmaka mit geringer therapeutischer Breite wie Digitalisglykoside, Theophyllin, Vancomycin, Phenytoin u.a. sollte klinisch ein Monitoring angestrebt werden. Die Dosierung erfolgt häufig auf der Grundlage des Idealgewichtes. Dies gilt u.a. für Digoxin, Immunsuppressiva, HIV-Medikamente und Antiepileptika.
Die meisten Studien zur Änderung der Kinetik bei adipösen Patienten liegen für Narkosemedikamente vor. Ein Grund mag sein, dass viele der Substanzen eine enge therapeutische Breite haben. Auch handelt es sich um invasive, meist klinische Eingriffe bei denen der Patient sehr differenziert überwacht wird. Diese Umstände vereinfachen die Erhebung kinetischer Arzneistoffdaten. Mod. nach Casati A. et al.: Anesthesia in the opbese patient: Pharmacocinetic considerations. J. Clin Anesth 2005; 17: 134 – 145
Bei Medikamenten, die überwiegend oder ausschließlich im fettfreien Gewebe (Muskulatur, Knochen, Organe) verteilt werden, soll der initiale Bolus auf dem idealen Körpergewicht (IKW) basieren. Wird das Medikament gleichmäßig im fettfreien Gewebe und ins Fettgewebe verteilt, legt man das totale (aktuelle) Körpergewicht (TKS) zugrunde.
Prof. Dr. Dorothee Dartsch, Uni Hamburg, untersuchte die Dosisgaben bei adipösen Karzinompatienten. In der klinischen Praxis erhalten Übergewichtige häufig eine niedrigere Dosis als die, die ihrem tatsächlichen Körpergewicht angemessen wäre. Die Reduktion der Dosisdichte führt jedoch vielfach zu einem geringeren Effekt. Auch bei Adipositas sollte das tatsächliche Körpergewicht zur Berechnung der KOF und der Dosis verwendet werden. Dies gilt v.a. wenn keine anderen Co-Morbiditäten dagegen sprechen oder es sich um eine kurative Therapie handelt. „Die Datenlage ist sehr dünn für extremes Übergewicht und fortgeschrittene Tumoren“, so Dartsch.
Die American Society of Clinical Oncology hat Empfehlungen für die zytotoxische Chemotherapie bei Adipösen erarbeit. Zur Dosisfindung für Zytostatika werden üblicherweise randomisierte Studien durchgeführt, die als Grundlage die geschätzte Körperoberfläche (KOF; body surface area, BSA) nutzen. Onkologen verwenden häufig noch immer das Idealgewicht oder adjustierte Idealgewicht oder kappen die KOF. Dies ist die Folge der Angst, die Patienten mit den Substanzen mit meist geringer therapeutischer Breite überzudosieren. Unterschreitet eine Substanz die minimale therapeutische Konzentration, tritt kein therapeutischer Effekt ein. Es ist eine irrige Annahme, dass das Pharmakon nur weniger wirkt. Wird die notwendige Minimalkonzentration unterschritten, sind jedoch unerwünschte Wirkungen möglich. Als Beispiel können Opiate dienen. Eine zu geringe Dosis ändert nichts an der Schmerzintensität, kann aber Übelkeit auslösen. Oder Parasympatholytika beim Asthmaanfall: Ist die Dosis zu gering, kann sogar ein Bronchospasmus ausgelöst werden, weil Muskarinrezeptoren in der falschen Relation angesprochen werden. „Es gibt klare Belege dafür, dass Reduktionen von Standarddosis oder Dosis-Intensität krankheitsfreies - und Gesamtüberleben bei kurativen Therapien gefährden können“, so das Gremium der Gesellschaft. Die signifikant höhere Krebssterblichkeit lässt sich zum Teil durch unnötige Dosisreduktionen erklären.
Das multiprofessionelle Expertengremium hat Studien von 1966 bis 2010 gesichtet und analysiert. Die meisten Fundstellen betrafen Karzinome der Brust, Ovarien, Darm und Lunge. Aus der Studie ausgeschlossen wurden Patienten mit Leukämie. Auch Therapien mit Tyrokinase-Inhibitoren, Immuntherapeutika wie Interleukine und Interferone sowie mit monoklonalen Antikörpern. Für diese Substanzen war die Studienlage zu dürftig für eine Analyse. Die Untersuchungen waren meist retrospektiv oder Beobachtungsstudien. Folgende Empfehlungen werden in den Leitlinien ausgesprochen:
Sehr hilfreich wäre natürlich eine Tabelle, die unter Einbeziehung der kinetischen Eigenschaften des Arzneistoffes Therapieempfehlungen für die Initial- und Erhaltungsdosis und das Drugmonitoring ausspricht. Dazu nimmt das Gremium wie folgt Stellung: „Das Panel empfiehlt weitere Untersuchungen. Es besteht ein Mangel an Daten zum Einfluss von Adipositas auf die Pharmakokinetik, teilweise wegen primärer Ausschlusskriterien in klinischen Studien. Insgesamt gibt es nicht ausreichend pharmakokinetische Daten, um die Empfehlung einer voll gewichtsbasierten Dosierung von Chemotherapeutika bei Adipositas abzulehnen, unabhängig von Verabreichungsweg und /oder Infusionszeit.“ Ein Link auf ein Tabellenwerk „Dosierung aller Arzneistoffe bei adipösen Patienten" wäre sehr hilfreich. Doch so eine Tabelle existiert nicht. Mittlerweile existiert Gendermedizin, die geschlechtsspezifische Unterschiede untersucht. Auch phänotypische Aspekte unterschiedlicher ethnischer Gruppen sind zunehmend besser untersucht und in den amerikanischen Fachinformationen teilweise etabliert. Für Kinder, Geriatriker, Niereninsuffiziente und Schwangere existieren ebenfalls ausführliche Tabellenwerke. In Anbetracht der Verbreitung adipöser Patienten sind hier dringend differenzierte Forschungen notwendig, damit die Therapie nicht „schwer“ gefährlich wird.