Borderline-Patienten können sich gut in andere hineinversetzen – aber es kommt oft vor, dass sie Menschen missverstehen. Dieses Paradox hängt mit der Mentalisierungsfähigkeit zusammen. Die mentalisierungsbasierte Therapie kann ihnen laut einer Studie helfen.
Unter "Mentalisierung" verstehen Psychologen die Fähigkeit, Wünsche, Phantasien, Gedanken und Absichten anderer Menschen einzuschätzen. Wer mentalisieren kann, hat die Fähigkeit, über sich selbst und andere nachzudenken. Die sogenannten "mentalen Zustände" – wie z.B. Wünsche und Absichten – lassen sich aus Gesten, der Mimik und den Handlungen ableiten. Forschungen haben gezeigt, dass die Mentalisierungsfähigkeit bei Patienten mit einer Borderline-Störung gestört ist. Die Psychoanalytiker Peter Fonagy und Anthony Bateman haben eine Therapieform entwickelt, die die Mentalisierungsfähigkeit verbessert: die Mentalisierungsbasierte Psychotherapie (MBT). Diese psychodynamische Therapiemethode ist ein Baustein, der in verschiedene Therapieformen eingebaut werden kann. Dabei gibt der Therapeut dem Patienten Raum, um über die eigenen mentalen Zustände und die Zustände des Gegenübers nachdenken zu können. Fonagy und Bateman stellen die MBT in ihrem Buch "Psychotherapie der Borderline-Persönlichkeitsstörung" (2008) ausführlich dar.
Jetzt präsentieren die Autoren die Langzeitergebnisse einer randomisiert-kontrollierten Studie zur MBT. Sie werteten die Daten von 41 Patienten aus, die sich aufgrund der Borderline-Störung in einer teilstationären Behandlung befanden. Die Patienten wurden randomisiert auf eine MBT-Gruppe und eine Standard-Therapie-Gruppe verteilt. Die Teilnehmer der MBT-Gruppe erhielten 18 Monate lang einer Mentalisierungsbasierte Therapie und besuchten nach der Entlassung weitere 18 Monate eine MBT-Gruppe. Die Kontrollgruppe erhielt eine psychiatrische Standardtherapie. 8 Jahre nach Studienbeginn bzw. 5 Jahre nach Beendigung der Mentalisierungsbasierten Therapie zeigte sich, dass die Patienten der MBT-Gruppe deutlich stärker von der Therapie profitiert hatten als die Patienten der Standardbehandlungsgruppe. Während "nur" 23% der MBT-Gruppe noch suizidal waren, lag der Anteil der suizidalen Patienten aus der Standardgruppe bei 74%. Auch der Medikamentengebrauch war in der MBT-Gruppe signifikant geringer als in der Standardgruppe: Die MBT-Patienten nahmen 0,02 Jahre lang drei oder mehr Medikamente ein, während es bei den Patienten der Standardgruppe 1,9 Jahre waren. 45% der MBT-Gruppe bzw. 10% der Standardgruppe wiesen einen Wert von über 60 in der GAF-Skala (Global Assessment of Functioning Scale) auf. Während die MBT-Patienten seit rund 3,2 Jahre berufstätig oder in der Ausbildung waren, lag die durchschnittliche Berufs-/Ausbildungsdauer bei den Patienten der Standardgruppe bei 1,2 Jahren.
Ein besonderes Problem vieler Borderline-Patienten ist die "Hypermentalisierung". Aufgrund ihrer Traumata in der Vergangenheit liegen die Patienten sozusagen ständig auf der Lauer und überinterpretieren die Handlungen und Absichten anderer Menschen. Beispiel: Eine Patientin lädt eine Freundin zum Geburtstag ein. Diese Freundin sagt ab, weil sie bereits einen wichtigen Termin an diesem Tag hat. Die Patientin leitet daraus ab, dass die Freundin sie generell ablehnt. Ob Patienten zur Hypermentalisierung neigen, kann z.B. mithilfe des "Movie for the Assessment of Social Cognition" (MASC) ermittelt werden. Hier werden den Patienten 15-minütige Filme vorgespielt. Nach verschiedenen Szenen werden die Patienten gefragt, wie sie diese Sequenzen interpretieren. Dabei können die Forscher feststellen, ob die Patienten gar nicht mentalisieren (also z.B. alles wörtlich nehmen), ob sie unterdurchschnittlich, adäquat oder zu sehr mentalisieren (also z.B. Verhaltensweisen überinterpretieren). Carla Sharp und Kollegen der Universität Houston, Texas, USA, untersuchten, ob die Hypermentalisierung ein charakteristisches Kennzeichen von Borderline-Patienten ist und ob sich diese Art der Mentalisierung in einer stationären psychodynamischen Therapie vermindern lässt. Von 164 jugendlichen Studienteilnehmern wiesen 68 (41%) eine Borderline-Störung auf. Die Hypermentalisierung trat unabhängig von den gezeigten internalen und externalen Problemen auf. Im Vergleich zu Patienten mit anderen Krankheitsbildern war die Hypermentalisierung bei Borderline-Patienten besonders häufig festzustellen. Je stärker die Hypermentalisierung bei Aufnahme in die Klinik ausgeprägt war, desto stärker litten die Borderline-Patienten auch an ihren Symptomen. Die Forscher stellten bei den jeweiligen Patienten eine signifikante Verminderung der Hypermentalisierung zwischen dem Tag der Aufnahme in die Klinik und dem Entlassungstag fest (F = 76,11, p < 0,01). Die Reduktion der Hypermentalisierung war hochsignifikant mit der Reduktion der Borderline-Symptome verbunden (r = -0,25, p = 0,005). Alle Patienten hatten eine interpersonal-psychodynamische Therapie erhalten, die unter anderem darauf hinzielte, die Mentalisierungsfähigkeit der Patienten zu verbessern. Die häufig anzutreffende Annahme, dass Borderline-Patienten gar nicht oder nur schwach mentalisieren könnten, muss also kritisch betrachtet werden. Viele Borderline-Patienten zeichnen sich eher dadurch aus, dass sie "zu stark" mentalisieren. Die Mentalisierungsfähigkeit ist also sehr oft, jedoch in gestörter Form, vorhanden. Mithilfe einer psychodynamischen, mentalisierungsbasierten Therapie kann sie wieder normalisiert werden.