Wer seine Stärken im Job ausleben kann, ist leistungsfähiger - Schwächen hingegen lähmen die Menschen. Wie Klinikmitarbeiter von diesem Konzept profitieren können erklärt PD Dr. Gordon Müller-Seitz, Vertretungsprofessor des Lehrstuhls für Organisation, an der Universität Stuttgart.
Im Gespräch mit DocCheck erläutert der Organisationsberater, wie mit einfachen Methoden der oft stressige Krankenhausalltag von medizinischem Personal entschärft werden kann. DocCheck: Der Arbeitsalltag in einem Krankenhaus ist für viele Beschäftigte kein Zuckerschlecken. Oft gibt es zu wenig Personal und lange Schichten. Das laugt Ärzte und medizinisches Personal aus. Die Leistungsfähigkeit lässt nach, die Fehleranfälligkeit nimmt zu – ein Teufelskreis… Die meisten Klinikmanagementsysteme zielen darauf ab, Burnouts zu vermeiden und Schwächen ihrer Mitarbeiter auszubügeln. Ein völlig falscher Ansatz? Dr. Müller-Seitz: Völlig falsch ist das nicht, aber es ist eben nur eine Kehrseite der Medaille. Denken Sie beispielsweise an Ihre Kindheit zurück. Wenn Sie eine 5 in Mathe hatten und eine 1 in Sport, was haben Ihre Eltern gemacht? „Natürlich“ haben Ihre Eltern Sie zur Mathenachhilfe geschickt. Und dies setzt sich quasi von der Schulzeit in den beruflichen Alltag fort. Personalgespräche fokussieren üblicherweise auf die Schwächen, denn dort – so die Annahme – sind die größten Potentiale für den Mitarbeiter bzw. das Krankenhaus. Diese Annahme ist allerdings falsch. Die größten Potentiale liegen in den eigenen Stärken. Das mag kontraintuitiv klingen, ist aber in unterschiedlichen wissenschaftlichen Studien und Kontexten nachgewiesen worden. Ein Beispiel zur Illustration: Die Firma Gallup, ein Meinungsforschungsunternehmen, hat Sekretärinnen mit Blick auf Ihre Fähigkeit, Texte schnell und akkurat niederzuschreiben in zwei Gruppen unterteilt, starke und schwache Sekretärinnen. Beide Gruppen durchliefen ein Training, um besser Texte schreiben zu können. Das Ergebnis? Die schwachen Sekretärinnen hatten sich nur marginal verbessert, konnten anschließend etwa ein Drittel mehr Text niederschreiben. Die starken Sekretärinnen hingegen hatten ihren Output verdreifacht! Diese Ergebnisse sind auf unterschiedliche Berufsgruppen und Kontexte übertragbar – jedes Mal mit dem gleichen Ergebnis: Es lohnt sich mehr, Stärken zu stärken, als Schwächen zu beheben! DocCheck: Sie beschäftigen sich damit, wie man auf nette Art und Weise Höchstleistungen aus seinen Mitarbeitern herausholen kann. Wie kann man sich das vorstellen? Dr. Müller-Seitz: Nette Art und Weise trifft es nicht genau. Mir geht es in meinen Studien und Beratungsleistungen darum, zu zeigen, dass Spaß, Humor und Freude vernachlässigte Elemente in der Arbeitswelt sind. Und dies nicht nur aus hedonistischer „Gutmenschenperspektive“, sondern als Bereicherung für beide Seiten – die Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter mit Blick auf deren emotionale Bindung an den Arbeitsplatz und damit verbunden erhöhtem Engagement. Hiervon profitiert auch das Krankenhaus. Konkret schlägt sich eine erhöhte emotionale Bindung in niedrigeren Krankenständen und Fluktuationen, also Personalkündigungen, nieder. Das hat dann natürlich greifbare monetäre Konsequenzen für das Krankenhaus. DocCheck: Wie könnte die Förderung von Stärken bei medizinischem Fachpersonal konkret aussehen? Dr. Müller-Seitz: Mit Blick auf das Personalmanagement des Krankenhauses wäre mein Vorschlag, bereits im Bewerbungsverfahren auf die individuellen Stärken der Bewerber zu achten und die Positionen dementsprechend zu besetzen. Dies mag offensichtlich klingen, in der Praxis ist es dann aber doch oft vertrackter. Was würden Sie tun, wenn Sie eine neue Position in der Pflege zu besetzen haben, bei denen zwei fast gleich qualifizierte Kandidaten im Rennen sind? Die eine Person ist dabei etwas empathischer im Umgang mit den Patienten, die andere Person weist dabei leicht bessere Zeugnisse auf. Üblicherweise würden hier Zeugnisse den Ausschlag geben. Ich würde jedoch dazu raten, die positionsrelevante Stärke zu berücksichtigen; konkret also die empathischere Person einstellen. Die US-Kaufhauskette Nordstrom bringt das meiner Ansicht nach passend mit folgendem Slogan auf den Punkt: „We hire the smile, we train the skill“. Ähnlich agieren auch die Top-Unternehmensberatungen, bei denen etwa die disziplinäre Herkunft der Kandidaten zweitrangig ist und mitnichten jeder Betriebs- oder Volkswirtschaftslehre studiert haben muss. Dieses Rüstzeug, diese „Skills“, wird den neuen Kollegen in einwöchigen Einführungsveranstaltungen kurzerhand beigebracht. Entscheidend ist, dass sie auch die nötige Leidenschaft, den „Smile“, wenn man so will, mitbringen, der weniger trainierbar ist, sondern eher personenbezogen. Aus Sicht der Beschäftigten erscheint es ratsam, sich darüber Gedanken zu machen, welche Tätigkeiten ihr oder ihm individuell am meisten Spaß bringen. Spaß deshalb, weil diese Tätigkeiten in der Regel leicht von der Hand gehen und nicht als mühsam oder langweilig empfunden werden; anders formuliert handelt es sich dabei um eben jene Tätigkeiten, die den individuellen Stärken der Person entsprechen. Dies führt dann wiederum dazu, dass gängigen Phänomenen wie Burnout oder Stress vorgebeugt wird. Eine Kollegin von mir ließ sich beispielsweise wieder – von der „Karriereleiter“ her gedacht – zurückversetzen, weil ihr die Arbeit in der vorherigen Position mehr Befriedigung verschafft hat. Insofern muss eine Karriere nicht immer zwingend dann erfolgreich sein, wenn es monetär oder hierarchisch bergauf geht; wichtiger ist es, stärkenorientiert arbeiten zu können. DocCheck: In einer Ihrer Studien sprechen Sie vom so genannten „Flow-Erlebnis“, das Menschen völlig zeitvergessen und befriedigt ihre Arbeit verrichten lässt. Das hört sich nach einem himmlischen Zustand an. Wie könnten Krankenhausärzte zu solch einem beflügelnden Gefühl kommen? Dr. Müller-Seitz: Flow-Erlebnisse beschreiben dem englischen Ausdruck folgend Zustände, in denen man „wie aus einem Guss“ einer Tätigkeit nachgeht, quasi im Verfolgen der Tätigkeit aufgeht. Dieser Zustand tritt in der Regel dann ein, wenn Sie eine anspruchsvolle Aufgabe verfolgen, der Sie von Ihrer Kompetenz her gewachsen sind. Dabei verliert man das Zeitgefühl und blendet äußere Einflüsse, wie beispielsweise ansonsten als störend wahrgenommenen Lärm oder das Bedürfnis, eine Pause zu machen, aus. Im Krankenhaus könnte dies beispielsweise der Chirurg sein, der über mehrere Stunden eine komplizierte Operation erfolgreich vornimmt und währenddessen kein einziges Mal Nahrung zu sich nimmt oder zur Toilette geht, weil er von der Aufgabe „gefesselt“ ist und so in der Tätigkeit aufgeht. DocCheck: Die eigenen Stärken und Talente können wohl die meisten Mitarbeiter benennen. Doch wie lässt sich deren Tätigkeitsfeld optimal an ihre Ressourcen anpassen? Dr. Müller-Seitz: Das Problem bei gängigen Personalmanagementansätzen ist, dass kontextunabhängig Ansätze angewandt werden. Es ist also letztlich unerheblich, ob der Ansatz bei einem Handelsunternehmen, einem Telekommunikationsunternehmen oder im Krankenhaus angewandt wird. Das ist insofern problematisch, als nicht auf die Besonderheiten der betreffenden Organisation Rücksicht genommen wird. Für das Kassenpersonal eines Einzelhändlers wie Media-Saturn benötige ich andere Kompetenzprofile und damit auch Stärken- und Talente-Ansätze als für einen Krankenhausbetrieb. Hier greifen jedoch gängige Ansätze meist zu kurz, da sie nach dem Motto „one size fits all“ angewandt werden. In diesem Zusammenhang habe ich zusammen mit Kollegen ein Instrument entwickelt, den Positive Challenge Indicator, kurz PCI, der die Messung von Leistungsfähigkeit, Zielorientierung, Anregung und Motivation und eben Flow-Erleben vereinigt. Das Besondere dabei ist, dass die PCI-Messungen bei der Arbeit und nicht am Ende des Tages oder in einer Pause erfolgen. Nebst Interviews kann so besser herausgearbeitet werden, was günstige Umstände für Flow-Erlebnisse sind, so dass letztlich Veränderungsprozesse in der betreffenden Organisation maßgeschneidert angestoßen werden können. DocCheck: Wie lassen sich Klinikziele mit der optimalen Förderung jedes Mitarbeiters vereinbaren? Dr. Müller-Seitz: So banal es klingen mag, es ist ganz einfach: Die Ziele der Klink und der Mitarbeiter sind in dieser Hinsicht identisch. Indem Mitarbeiter entsprechend ihrer Stärken und Talente eingesetzt werden, schafft die Klinikleitung das ideale Umfeld zur Entfaltung der Mitarbeiterschaft. Das wiederum sorgt für emotional gebundene und motivierte Mitarbeiter, was sich dann wie angedeutet auch in geringerer Mitarbeiterfluktuation oder in geringeren Krankheitsständen widerspiegelt und somit nicht zuletzt auch für die Klinikleitung finanziell attraktiv ist. Schwierig ist in diesem Zusammenhang lediglich, das Umdenken in der Klinikleitung bzw. Personalabteilung oder im Zuge eines Coachings bei den betroffenen Mitarbeitern zu erzielen. DocCheck: Herzlichen Dank für das Gespräch! ----- PD Dr. Gordon Müller-Seitz arbeitet als Lehrstuhlvertreter am Lehrstuhl für Organisation des Betriebswirtschaftlichen Instituts der Universität Stuttgart. Im Rahmen seiner Dissertation befasste er sich mit positiver Emotionalität und prägte das übergreifende Themenfeld Positives Management im deutschsprachigen Raum. Neben der Auseinandersetzung mit diesen Themen sind weitere Forschungsinteressen Führung in Netzwerken, Projektmanagement, Open Source / Social Software sowie Wissensmanagement.