Alt werden: Gerne, aber bitte nur dann, wenn körperliche Fitness und vor allem die geistigen Kräfte nicht nachlassen. Das tägliche Kreuzworträtsel hilft nur begrenzt gegen Gedächtnisstörungen. Amerikanische Wissenschaftler haben nun in „Nature“ ein spezielles Videospiel angepriesen.
Sieht so das Fitnessprogramm im Seniorenheim der Zukunft aus? Vormittags etwas Sport mit der Wii-Konsole. Der virtuelle Partner beim Tennis erscheint auf dem großen Monitor, ebenso wie beim Nachbarn der Golfplatz nach Wunsch. Die Spielsteuerung besorgt der nachgebaute Schläger, der drahtlos mit dem Rechner kommuniziert. Am Nachmittag dann etwas fürs Gehirn: Während der virtuellen Fahrt im Sportwagen erscheinen zusätzlich noch ein paar Rechenaufgaben, plötzliche Reaktionstests und fremdsprachige Vokabeln. So präpariert steuern die fitten Senioren ihre Geburtstage jenseits der 100 an.
Gehirnjogging - das Durcharbeiten vieler Rätselzeitschriften - bringt aber für die geistige Fitness ebenso wenig wie das Abspulen verschiedenster Computerspiele. Diese Erkenntnis einer Studie mit über 11.500 Teilnehmern veröffentlichte Adrian Owen im Jahr 2010 in „Nature“. Grundsätzlich fördern zwar Spiele und Denksportaufgaben das Gedächtnis und die kognitiven Fähigkeiten. Aber leider nur für das speziell trainierte Aufgabengebiet. Die Verbesserung bei den Ergebnissen im Spiel lassen sich nicht auf den Alltag übertragen - sehr zum Leidwesen der Spielindustrie, die sich mit dem Gedächtnistraining für Senioren einen millionenschweren Zugang zu einem bisher weitgehend unerschlossenen Markt erhofft hatte. Bei jüngeren Spieler sind die beobachteten Effekte zwar nicht ganz so klar, meist profitieren aber auch sie mit kommerziellen Videospielen nur in einem Spezialgebiet, das die geforderten Fähigkeiten ganz speziell anspricht.
Umso erstaunlicher war letzte Woche die Meldung einer Wissenschaftlergruppe in San Francisco, die ebenfalls in „Nature“ von erstaunlichen Verbesserungen der kognitiven Leistungen von Senioren berichtete, wenn diese mit „Neuroracer“ ihre nachlassenden geistigen Fähigkeiten wieder auf Trab gebracht hatten. Das Videospiel war nach den Anforderungen von Adam Gazzaley und seinen Kollegen speziell für seine Zielgruppe entwickelt worden, um deren Fähigkeit zum Multitasking auf die Probe zu stellen und mit geduldigem Training wieder auf den Stand von früher zu bringen. Dabei galt es, ein Auto auf einem anspruchsvollen Kurs einer geschlängelten Landstraße mit zahlreichen Kuppen auf Kurs und bei Tempo zu halten. Gleichzeitig sollte der Fahrer aber auch noch auf scheinbar zufällig eingeblendete geometrische Figuren achten und auf diese mit Knopfdruck reagieren.
Nicht erstaunlich war das Ergebnis, dass diese Fähigkeit zum Multitasking im Lauf der Jahre von den Zwanzigern bis ins achte Lebensjahrzehnt hinein beinahe linear abnimmt. Wer gleichzeitig zwei Aufgaben zu erfüllen hat, ist fast zwangsläufig langsamer als beim Prinzip „Eins nach dem anderen“, wenn er oder sie nur eine Einzelaufgabe zu erfüllen hat. Im zweiten Teil ging es aber nun darum, ob auch Menschen jenseits der Sechzig noch einmal etwas an diesem schleichenden Verlust ändern können. Daher trainierten die Teilnehmer zwischen 60 und 79 Jahren regelmäßig ihre Fähigkeiten, zwei völlig unterschiedliche Aufgaben gleichzeitig zu erfüllen. Je nach ihren persönlichen Fähigkeiten, passte sich dabei die Schwierigkeit des Spiels bei beiden Aufgaben automatisch an, sodass sie jeweils bei einer rund zwanzigprozentigen Fehlerquote blieb, ohne jedoch den spiellustigen älteren Herrschaften den Ehrgeiz zu nehmen. Nach vier Wochen, in denen die Teilnehmer am Laptop dreimal pro Woche eine Stunde am Tag zu Hause spielen konnten, hatte sich tatsächlich die Fähigkeit zum Multitasking deutlich verbessert.
Im Vergleich zur Kontrollgruppe, die abwechselnd entweder Auto fahren oder auf die Muster reagieren sollte, waren die Ergebnisse bei der Aufgabenkombination deutlich besser als am Beginn des Trainings. Die Geübten schlugen dabei nicht nur die Single-Task-Probanden, sondern auch eine Vergleichsgruppe von 20-jährigen, die sich zum ersten mal an „Neuroracer“ versuchte. Möglicherweise taugen solche speziell konzipierten Trainingseinheiten für den Geist auch für eine dauerhafte Verbesserung der kognitive Fähigkeiten. Denn ein halbes Jahr später hatten sich die Multitasking-Fähigkeiten auch ohne weiteres Üben kaum verschlechtert. Im Gegensatz zu anderen Untersuchungen mit kommerziellen Videospielen nahm mit den Intensiv-Multitasking-Einheiten auch das Arbeitsgedächtnis und die Konzentrationsfähigkeit in unabhängigen anderen Tests zu. Die Kontrollgruppe mit den getrennten Übungseinheiten für die beiden Aufgabenfelder blieb dagegen weitgehend auf ihrem Stand vor Studienbeginn und hatte nur Fortschritte bei der eingeübten Einzelaufgabe gemacht.
Lassen sich solche Fortschritte auch im zentralen Nervensystem erkennen? Dazu verkabelten die Forscher den Kopf einiger Teilnehmer und maßen per EEG Theta-Wellen im vorderen Gehirnteil („frontal midline“) und die Kohärenz dieser Wellen im frontalen und posterioren Gehirnregionen. Theta Wellen gelten als eine Art Marker für die kognitive Kontrolle, also willensgesteuerter Aufmerksamkeit und zielführender Aktionen. Hier stieg nach dem einmonatigen Training die Stärke der Theta-Wellen an. Auch die Kohärenz zwischen den verschiedenen Gehirnregionen verbesserte sich. Diese Messergebnisse deuten die Forscher als Zeichen einer besseren Verknüpfung verschiedenen Gehirnteilen und einer Zunahme der Neuroplastizität. Wahrscheinlich zeigen Theta-Wellen auch an, dass das Gehirn bei anspruchsvollen Aufgaben den präfrontalen Kortex deaktiviert. Damit haben Eindrücke, die von der eigentlichen Aufgabe ablenken und die Konzentration stören, weniger Chancen, ins Bewusstsein vorzudringen.
Unabhängige Experten wie Alexandra Trelle von der englischen Cambridge University würden gerne sehen, ob sich der Transfer der erworbenen Multitasking-Fähigkeiten auch noch auf andere kognitive Bereiche des täglichen Lebens ausdehnen lässt. Wie sieht es etwa mit der Kommunikation im Gespräch mit mehreren Partnern oder anderen anspruchsvollen geistigen Herausforderungen aus, die mit dem Alter immer schwerer zu bewältigen sind? Signifikante Verbesserungen beziehen sich entsprechend den Ergebnissen aus Kalifornien vorerst auf Fähigkeiten, die im Videospiel oder verwandten Aufgaben gefragt waren. Dennoch beweist die Studie, dass das Gehirn bis weit in die zweite Lebenshälfte hinein noch plastisch und somit lernfähig ist.
Taugt eine solche Software auch als Therapie gegen mentale Störungen wie ADHD bei Jugendlichen oder jungen Erwachsenen, bei Depressionen oder gar fortschreitender Demenz? In einer Pressekonferenz betonte Gazzaley, dass er bei diesem Spiel weniger an eine kommerzielle Ausbeutung seiner Spielentwicklung denke, sondern vielmehr an ein Forschungsinstrument für seine und andere Arbeitsgruppen. Mit einer Weiterentwicklung von „Neuroracer“ könne man sowohl nachlassende kognitive Fähigkeiten beurteilen, als ihnen auch wieder auf die Sprünge helfen, möglicherweise auch bei pathologischen Prozessen.
In früheren Tierversuchen erzielten auch ältere Tiere bessere kognitive Leistungen, wenn sie in einer abwechslungsreichen Umgebung mit zahlreichen Herausforderungen ihrer Umwelt und Artgenossen lebten. Auf diese Erkenntnisse bezieht sich wohl auch Alexandra Trelle, wenn sie sagt: „Ich glaube es gibt viele verschiedene Wege, um kognitive Funktionen zu verbessern. Etliche davon sind wohl sozialer und machen mehr Spaß als ein Computerspiel für eine Person. Da wäre das Erlernen einer neuen Sprache, eines Musikinstruments, oder auch anspruchsvolle Strategiespiele.“ Möglicherweise brächte eine solche Beschäftigung, die näher am Alltag liege, so Trelle, sogar größeren Nutzen als ein gezieltes Computer-Trainingsprogramm. Möglicherweise ist das „Wie“ aber auch gar nicht so wichtig. Die wichtige Botschaft von „Nature“ lautet wohl: Für eine mentales Fitnesstraining ist es auch mit 80 nicht zu spät. Das Sprichwort von „Was Hänschen nicht lernt...“ hat ausgedient.