Neue Grippesaison, alte Probleme: Wieder einmal steht die Versorgung mit Impfstoffen auf Messers Schneide. Und wieder einmal fordern Apotheker, Vakzine von Rabattverträgen auszuschließen. Krankenkassen zeigen sich davon unbeeindruckt.
Blick zurück: Im "Bericht zur Epidemiologie der Influenza in Deutschland" sprechen Forscher am Berliner Robert-Koch-Institut (RKI) von einer langen Grippesaison 2012/2013. Über 19 Wochen hinweg besuchten insgesamt 7,7 Millionen Menschen ihren Arzt wegen entsprechender Infektionen. Mediziner stellten 3,4 Millionen Krankschreibungen aus – ein Rekordwert. "Das erinnert daran, wie unterschiedlich Grippewellen verlaufen können und dass der Verlauf nicht vorhersagbar ist", so RKI-Präsident Professor Dr. Reinhard Burger. Werdende Mütter sollten laut Ständiger Impfkommission (STIKO) deshalb ab ihrem zweiten Trimenon schützende Spritzen in Anspruch nehmen, bei erhöhter Gefährdung infolge bestehender Vorerkrankungen sogar ab dem ersten Trimenon. Patienten mit chronischen Krankheiten der Atmungsorgane, chronischen Herz-Kreislauf-, Leber- und Nierenkrankheiten, Stoffwechselkrankheiten, neurologischen Krankheiten wie Multipler Sklerose sowie Patienten mit Immundefiziten profitieren ebenfalls von Impfungen. Für Kinder zwischen zwei und sechs Jahren wird die Sache dank nasaler Impfstoffe deutlich weniger schmerzhaft: Es geht auch ohne Pieks.
Das nächste Argument für regelmäßige Immunisierungen: Grippeschutzimpfungen bewahren ältere Menschen vor einem Apoplex oder einem Myokardinfarkt. Kanadische Ärzte fanden heraus, dass entsprechende Risiken um 50 Prozent sinken. "Wir beobachten schon lange, dass Infekte zu einer Häufung von Schlaganfällen führen", so Professor Dr. Wolf-Rüdiger Schäbitz von der Deutschen Schlaganfall-Hilfe. "Deshalb gibt es im Herbst und Winter mehr Schlaganfälle als im Sommer". Eine mögliche Erklärung: Virale Infekte bringen die körpereigene Hämostase aus dem Gleichgewicht. Auch lösen sich vermehrt atherosklerotische Plaques, und es kommt zu Makroangiopathien hirnversorgender Arterien. Deshalb sei, so die Deutsche Schlaganfallhilfe weiter, für Patienten mit kardiovaskulären Risiken eine Grippeschutzimpfung empfehlenswert – Jahr für Jahr.
Aktuelle Influenzaimpfstoffe unterscheiden sich von Vakzinen der letzten Saison. Laut WHO-Empfehlung sind momentan Antigene folgender Viren enthalten: A/California/07/2009 (H1N1) pdm 09, A/Victoria/361/2011 (H3N2) sowie B/Massachusetts/2/2012. Erstmals bieten Firmen tetravalente Impfstoffe an – diese haben laut RKI zusätzlich Antigene von B/Brisbane/60/2008. Dabei stehen "A" oder "B" für Virustypen. Ortsbezeichnungen geben an, wo das Virus erstmals isoliert worden ist. Dann folgen eine Kennziffer sowie das Jahr der Erstisolierung. Hämagglutinin (H)- und Neuraminidase (N)-Subtypen kommen noch mit hinzu. Soviel zur Theorie. Die Herstellung entsprechender Vakzine bereitet Firmen in der Praxis einmal mehr Probleme.
Zwar hat das Paul-Ehrlich-Institut bis zum 20. September rund 13,4 Millionen Dosen freigegeben. Grund zur Freude besteht deshalb noch lange nicht: Auch in diesem Jahr klagen Großhändler und Apotheker über Lieferengpässe bei Grippeimpfstoffen. Wie die Kassenärztliche Vereinigung Sachsen berichtet, fehlen in Chemnitz und Dresden Begripal® beziehungsweise Optaflu®. Beide Vakzine sollten aufgrund von Rabattverträgen eingesetzt werden. Übergangslösungen für September seien nicht möglich, antworteten Krankenversicherer der Ärzteschaft. Und weiter: "Ein einheitliches Meinungsbild zu einer eventuellen Teilaufhebung der Exklusivität für September konnte (…) innerhalb der GKV in Sachsen nicht hergestellt werden". Interessant wäre, zu erfahren, welche Kassen Rabattverträge über das Interesse ihrer Versicherten stellen. Kein Einzelfall: Auch in Bremen und Thüringen gelten Rabattverträge zwischen Norvartis und GKVen. Ärzten und Apothekern bleibt nur als Hoffnung, dass – wie vom Hersteller versprochen – erste Chargen Ende September bis Mitte Oktober ausgeliefert werden.
Grund genug für Kollegen, die Situation einmal mehr anzuprangern. "Wir Apotheker sind ein entschlossener, aber auch lösungsorientierter Verhandlungspartner, der eine starke Selbstverwaltung befürwortet", stellt Fritz Becker, Vorsitzender des Deutschen Apothekerverbands (DAV), beim Apothekertag in Düsseldorf klar. Impfstoffausschreibungen seien Beispiele, dass Kassen "mehr und mehr die Patientenorientierung abhanden gekommen ist". Jetzt fordern Apotheker, "dass der Einsatz dieses Instrumentes auf ein erträgliches und sinnvolles Maß zurückgeführt wird". Besonders kritisch: "Bei Ausschreibungsverfahren für Impfstoffe können Produktionsausfälle nicht ausgeglichen werden, da keine ausreichenden Reserven vorhanden sind", so Becker weiter. Der DAV-Chef befürchtet ähnlich desaströse Zustände wie zuletzt 2012 / 2013: "Wer Ineffizienzen und regionale Egoismen im Gesundheitswesen sucht, hier kann er sie finden. Einige Krankenkassen sind nicht zur Einsicht in der Lage". Trotz deutlicher Worte fanden Standesvertreter bis dato nur wenig Gehör: Ihre Resolution beim Deutschen Apothekertag 2012 zeigte in 2013 kaum Wirkung.
Apotheker kennen noch ganz andere Probleme aus der Praxis: Nach wie vor verschreiben Ärzte bei Virusgrippe häufig Antibiotika. Influenza-PCRs, derzeit ein diagnostischer Goldstandard, sind aufwändig und teuer, während Schnelltests häufig zu falschen Ergebnissen führen. Das gab Wissenschaftlern um Aimee K. Zaas und Geoffrey S. Ginsburg von der Duke University, Durham, zu denken. Sie haben ein Verfahren entwickelt, um nicht Viren zu bestimmen, sondern Reaktionen des Wirtes selbst. Zaas und Ginsburg untersuchten Probanden, die sich freiwillig mit H1N1/Brisbane- oder H3N2/Wisconsin-Erregern infizieren ließen. Dadurch wurden bei ihnen rund 30 Gene aktiviert. Deren Transkripte, sprich RNAs, identifizierten Forscher in Blutproben über die Reverse-Transkriptase-Polymerase-Kettenreaktion (RT-PCR). Dadurch gelang ein Nachweis bei 100 (H3N2) beziehungsweise 87 Prozent (H1N1) aller Studienteilnehmer. Anschließend wurde der neue Test bei Notfallpatienten einer Ambulanz validiert. Hier erzielten Zaas und Ginsburg Sensitivitäten von 89 Prozent, die Spezifität lag bei 95 Prozent. Noch in der aktuellen Grippesaison wollen sie mit klinischen Studien beginnen. Ein Thema für den Handverkauf? Bereits heute bieten Hersteller OTC-Testkits für pharmakogenomische Fragestellungen an, in Kooperation mit externen Labors. Grippetests könnten dieses Portfolio langfristig ergänzen.