Migränepatienten strengen sich im Vergleich zu Gesunden oft übermäßig an, um die ihnen gestellten Aufgaben möglichst perfekt zu erledigen. Nun konnten Forscher mit Hilfe eines Experiments zeigen, dass Migränepatienten Probleme anders verarbeiten als gesunde Personen.
Migränepatienten scheinen im Vergleich zu gesunden Personen auf Probleme schneller zu reagieren. Vermutlich läuft in ihrem Gehirn die Reizverarbeitung rascher ab. Nun konnte ein Forscherteam des Universitätsklinikums Rostock im Rahmen einer Studie nachweisen, dass Migränepatienten intensiver nach Lösungsmöglichkeiten als Gesunde suchen. Wie die Wissenschaftler um Professor Peter Kropp im Journal of Neural Transmission mitteilten, strengen sich die Migränepatienten viel stärker als die anderen Studienteilnehmer an, eine experimentell erzeugte Hilflosigkeitssituation zu bewältigen. Im Verlauf dieses Experiments mussten die Probanden auf verschiedene Töne hören und bei einem bestimmten Ton sehr schnell einen Knopf drücken, der diesen Ton ausschaltet.
Insgesamt untersuchten die Forscher um Kropp die Reaktion von 24 Migränepatienten und 24 gesunden Person. Für jede korrekte Reaktion bekamen alle Teilnehmer jeweils einen Euro als Belohnung. Dann wandelten die Forscher das Experiment um: Nach 16 der 32 Messdurchgänge konnten die Teilnehmer plötzlich den Reaktionston trotz korrekten Knopfdrucks nicht mehr abschalten, er dauerte dann jeweils mehrere Sekunden an und die bis dahin angehäufte Belohnung schmolz ab. „Eine Situation der Hilflosigkeit entstand. Die teilnehmenden Migränepatienten aktivierten mehr kognitive Ressourcen, den Ton abzustellen, als die Gesunden“, berichtet Kropp, der Leiter des Instituts für Medizinische Psychologie und Medizinische Soziologie der Universität Rostock und Vizepräsident der Deutschen Migräne- und Kopfschmerzgesellschaft ist.
Dies konnten er und seine Mitarbeiter zeigen, indem sie die langsamen Gleichspannungspotenziale im Gehirn der Probanden mit Hilfe der Elektroenzephalografie (EEG) maßen. Nach Abschalten des Tons beobachten die Forscher einen charakteristischen EEG-Verlauf, der „post-imperative negative Variation“ (PINV) genannt wird. Während Gesunde nur kurz in Form einer vergrößerten PINV-Amplitude auf die Veränderung im Experiment reagierten, fiel die Vergrößerung dieser Kurve in der Migränegruppe deutlich länger und ausgeprägter aus. „Immer dann, wenn man seine Aufmerksamkeit besonders stark auf eine bestimmte Sache ausrichtet, verstärkt sich die Amplitude der Kurve“, erklärt Kropp. Zudem war die Reaktionszeit nach dem Ausschalten des Tons, also die Spanne zwischen Ton und Tastendruck, bei den Migränepatienten signifikant kürzer als bei den gesunden Probanden.
„Die Migränepatienten erhöhten ihre Aufmerksamkeit, was sich positiv auf ihre Reaktionszeit auswirkte“, sagt Kropp. „Sie resignierten nicht so schnell wie gesunde Personen und kämpften stärker gegen das Hilflosigkeitsgefühl an.“ Noch sind sich die Forscher um Kropp nicht sicher, ob Migränepatienten sich mit Reize intensiver auseinandersetzen, weil sie wissen, dass bald schon wieder die nächste Schmerzattacke folgt oder diese einfach eine Folge der intensiveren Reizverarbeitung ist. „Noch ist nicht klar, was Henne und was Ei ist“, so Kropp. Andere Experten sehen hier keinen direkten Zusammenhang, sondern eine gemeinsame Veranlagung: „Die spezifische Reizverarbeitung ist weder Ursache noch Folge der Schmerzattacken, sondern eine bestimmte genetische Veranlagung der Patienten führt unabhängig voneinander sowohl zur Migräne als auch dazu, dass deren Gehirn anders auf Reize reagiert“, sagt Professor Stefan Evers, Chefarzt der Neurologie am Krankenhaus Lindenbrunn in Coppenbrügge und Generalsekretär der International Headache Society.
Es ist bekannt, dass Migränepatienten über eine verzögerte Habituationsfähigkeit verfügen und immer noch auf gleichartige Reize reagieren, wenn gesunde Menschen sich daran schon gewöhnt haben. „Interessanterweise sind diese Verhaltensunterschiede kurz vor einem Anfall am größten, um dann während des Anfalls zu verschwinden“, sagt Kropp. „Es scheint sich dann etwas zu normalisieren, was zwischen zwei Anfällen nicht normal ist.“ Nach seiner Ansicht ist es für Migränepatienten das Beste, sich Schritt für Schritt an Reize anzunähern und diese nicht zu vermeiden, wie es jahrzehntelang propagierte wurde.
„Migränepatienten haben zwar die Fähigkeit, Probleme vor allem auf kleiner Ebene besser als Gesunde zu lösen, doch wenn sie das zu stark betreiben, überfordern sie ihren Organismus und rutschen möglicherweise in einen Anfall hinein“, sagt Kropp. Deswegen plädiert er dafür, dass Migränepatienten sich Entspannungstechniken aneignen und leichten Ausdauersport betreiben. Damit, findet der Psychologe, lasse sich die Zahl der Anfälle bei Migränepatienten reduzieren, ohne dass deren Fähigkeit, Probleme zu lösen, unterdrückt werde. Auch Evers sieht die Entspannungstechniken als wesentlichen Bestandteil der Migräneprophylaxe: „Als vorbeugende Maßnahme eignen sich diese Techniken sehr gut, so dass man erst einmal versucht, Patienten am Anfang der Behandlung keine prophylaktisch wirksamen Medikamente zu verschreiben."