Im schlammigen Sumpf vor der Küste Chiles wartete Pandoras Büchse auf ihre Entdeckung. Jetzt haben Forscher einen Virus gefunden, der altehrwürdige Theorien infrage stellt: Gibt es wirklich nur drei Säulen des Lebens?
Bis zum Physikum lernen Medizinstudenten, dass Archaeen, Bakterien und Eukaryoten unseren Planeten als zelluläre Lebensformen beherrschen. Wer unter „Virus“ nachschlägt, liest von kleinen, nur im Elektronenmikroskop sichtbaren Partikeln, die Wirtszellen zur Vermehrung benötigen und nur eine Handvoll Erbgut tragen – bei Influenzaviren sind es beispielsweise sieben bis acht RNA-Abschnitte. Aktuelle Arbeiten stellen manche Dogmen zunehmend infrage. Eine Chronologie der Ereignisse:
Auf der Suche nach auslösenden Faktoren einer Pneumoniewelle isolierten Forscher bereits 1992 in einem Kühlturm vermeintlich grampositive Bakterien. Sie befanden sich an Bord von Acanthamoeba polyphaga, einer Amöbe. Nach ihrem Entdeckungsort im englischen Bradford sollten vermeintlich neue Keime als Bradford coccus klassifiziert werden. Elf Jahre später überraschten französische Wissenschaftler die Fachwelt: Von wegen Bakterium – hier handelt es sich um ein bislang unbekanntes Riesenvirus, Acanthamoeba polyphaga mimivirus genannt. Das Kapsid hat einen Durchmesser von 400 Nanometern, und im Genom sind rund 1,2 Megabasenpaare zu finden. Ob Mimiviren humanpathogen sind, gilt als umstritten. Ärzte halten einen Zusammenhang mit Pneumonien für möglich, ihnen liegen indirekte Beweise in Form von Antikörpern gegen das Virus vor. Allerdings fehlen derzeit noch hieb- und stichfeste Argumente.
Aus entwicklungsbiologischer Sicht weichen Mimiviren bekannte Definitionen gewaltig auf: Sie sind ähnlich groß wie beispielsweise das Bakterium Rickettsia conorii und haben auch ein Genom, das sich mit Bakterien messen lässt. Gene zur Synthese von Aminosäuren beziehungsweise Nukleotiden sind ebenfalls mit an Bord. Im Vergleich zu bekannten Viren fällt auf, dass sogar vier Aminoacyl-tRNA-Synthetasen gebildet werden: für Arginin, Cystein, Methionin sowie für Tyrosin. Ohne einen Wirt sieht es dennoch schlecht aus, sowohl bei der Proteinbiosynthese als auch beim Energiestoffwechsel. Mimiviren sind kein Einzelfall, Mitte 2010 entdeckten Jean-Michel Claverie und Chantal Abergel den nächsten Giganten: Megavirus chilensis. Sein Kapsid misst 440 Nanometer im Durchmesser, und Molekularbiologen fanden 1,3 Millionen Basenpaare. Das Megavirus exprimiert sogar sieben Aminoacyl-tRNA-Synthetasen.
Jetzt haben Jean-Michel Claverie und Chantal Abergel, Marseille, den nächsten Treffer gelandet. Sie entdeckten eine bislang unbekannte Spezies vor der Küste Chiles und später in einem stehenden Gewässer bei Melbourne. Pandoraviren, so die neue Bezeichnung, sind oval geformt und leben parasitär in Amöben. Wie ihre mythologischen Verwandten bringen sie Unheil – nicht gerade für Patienten, aber für etablierte Theorien. Bleibt noch die Hoffnung auf ein tieferes Verständnis unseres Lebens, um beim griechischen Vorbild zu bleiben. Das beginnt mit ihrer Größe – Pandoraviren sind einen halben Mikrometer breit sowie einen Mikrometer lang: Dimensionen, die im lichtmikroskopischen Bereich liegen, einige Bakterien haben deutlich weniger vorzuweisen. Claverie und Abergel sprechen sogar von neuen Lebensformen („new life forms“): Mit 2,5 Millionen Basenpaaren und 2.556 Gene übertrifft der Salzwasser-Vertreter Pandoravirus salinus virale Obergrenzen um den Faktor zwei. Pandoravisus dulcis aus dem Süßwasser lässt sich auch nicht lumpen, hier waren 1,9 Millionen Basenpaare sowie 1.500 Gene zu finden. Nach aktuellem Kenntnisstand bleiben mehr als 93 Prozent des Erbguts rätselhaft, ohne Schnittstellen zu anderen Megaviren oder gar zu Eukaryoten. Lediglich sieben Prozent lieferten beim Abgleich mit Datenbanken brauchbaren Informationen. „Was zum Teufel ist mit den anderen Genen los?“, will Claverie wissen. Momentan stellen Wissenschaftler viel infrage, bis hin zum Status dieser Viren als nicht eigenständige Lebensformen. Teilchen des Padoravirus unter dem Elektronenmikroskop© Chantal Abergel / Jean-Michel Claverie
Bleibt zu klären, wie sich Pandoraviren in die Evolution einordnen lassen, allein schon wegen des ungewöhnlichen Erbguts. Abergel vermutet, dass zu früheren Zeiten mehr Diversität vorhanden war als heute – und nicht nur Archaeen, Bakterien sowie Eukaryoten das Geschehen beherrscht haben, sondern eine vierte, bislang unbekannte Dimension des Lebens. Gemeinsame Vorläufer, sprich urzeitliche Zellen, könnten sich zu Bakterien sowie zu eukaryotischen Zellen entwickelt haben. Bei anderen wiederum gingen typische Funktionen verloren, und Viren sind entstanden. Besagte Pandoraviren halten Forscher für ein Relikt dieser Epoche. Möglicherweise ähneln sie Urzellen stärker als bislang bekannte Formen. Viele Hypothesen, bei einer Sache sind sich Virologen jedoch sicher: Wie zuvor schon Mimiviren in Bradford, erklären Pandoraviren so manches Phänomen, wissenschaftliche Fehlinterpretationen inklusive. In „Nature“ gibt Chantal Abergel zu bedenken, dass hinter so mancher Publikation ein Riesenvirus stecken könnte. Warten wir es ab.