Je drastischer die Wortwahl bei der Diagnose ist, umso eher stimmen Patienten aggressiven Therapien zu. Weil das Überbehandlungen nach sich ziehen kann, wollen Mediziner das Vokabular bei Krebserkrankungen ändern. Die Forderung klingt plausibel, hat aber Schwächen.
"Sie haben Krebs!" Allen Behandlungsmöglichkeiten zum Trotz hat diese Diagnose bis heute nichts von ihrem Schrecken verloren. Viele Patienten, die bei ihrem Arzt damit konfrontiert werden, fühlen sich existenziell bedroht, zumindest aber aus der Bahn geworfen. Da ist es nur allzu verständlich, wenn sie die bösartige Geschwulst in ihrem Körper unbedingt loswerden wollen - auch wenn man einfach nur abwarten könnte. Letzteres ist etwa beim duktalen Karzinom in situ (DCIS) eine Alternative. Jede fünfte Frau mit neu festgestelltem Brustkrebs hat eigentlich diese Diagnose. In der Regel wird der Tumor chirurgisch entfernt oder bestrahlt. Allerdings ist das DCIS streng genommen kein richtiger Krebs, sondern eine Vorstufe. Und das Risiko, dass sich ein richtiger Krebs daraus entwickelt, wird bei niedrigmalignen Tumorzellen mit etwa 20 Prozent über einen Zeitraum von bis zu 40 Jahren angegeben. Anstelle einer Therapie kämen daher auch regelmäßige Kontrolluntersuchungen in Frage.
Sobald jedoch erst einmal von Krebs die Rede ist, scheint es schwierig, sich auf diese Vorgehensweise einzulassen. Das jedenfalls schließen Forscher aus einer Untersuchung, in der sie 394 gesunden Frauen die fiktive Diagnose DCIS einmal als 'nichtinvasiven Krebs', einmal als 'Brustläsion' und einmal als 'abnormale Zellen' präsentierten. Die möglichen Folgen der Erkrankung wurden dabei identisch beschrieben. Anschließend sollten die Frauen wählen, welche von drei Therapiestrategien sie in den drei Szenarien bevorzugen würden: die chirurgische Entfernung des Tumors, eine Arzneitherapie oder ein aktives Überwachen. Wurde das DCIS als 'Brustkrebs' beschrieben, entschieden sich 47 Prozent der Frauen für die Operation, beim Wort 'Brustläsion' waren es 34 Prozent und bei 'abnormale Zellen' nur noch 31 Prozent. Die Unterschiede waren signifikant. Umgekehrt stieg der Anteil derer, die lediglich eine aktive Überwachung wollten von 33 auf 48 Prozent, für die Arzneitherapie votierten jeweils um die 20 Prozent. Mit dem Dreh, den der Arzt seiner Diagnose gibt, verschiebt sich offenbar auch die Therapiepräferenz des Patienten.
Dieses Ergebnis scheint jene Ärzte zu bestätigen, die in der Wortwahl einen Mechanismus für Überbehandlungen sehen. Sie argumentieren, dass sich Tumoren heute in frühesten Stadien aufdecken lassen. Darunter befinden sich dann auch Krebsvorstufen und langsam wachsende Geschwülste, die die Patienten nie beeinträchtigen würden. So stehe das Wort 'Krebs' mittlerweile für ein breites Spektrum an Tumoren mit ganz unterschiedlichen Prognosen, während es in den Köpfen der Patienten eine lebensbedrohliche Erkrankung geblieben sei und die Therapiepräferenzen verzerrt. Betroffene würden so auch bei Tumoren mit niedrigem Risikopotenzial auf Behandlungen setzen, die das Leben um keinen Deut verlängern, aber mit teils erheblichen Risiken und Nebenwirkungen einhergehen. Manche Ärzte fordern daher, dass künftig nur noch jene Tumoren als Krebs bezeichnet werden, die ohne Behandlung schnell wachsen. Für solche mit geringem Risikopotenzial - wie sie beispielsweise in der Brust, der Lunge, der Prostata und der Schilddrüse oft anzutreffen sind - solle man Begriffe finden, die weniger dramatisch klingen. Als Vorschläge kursieren Konstrukte wie 'intraepitheliale Neoplasien', 'epitheliale Tumoren mit geringer Malignität', oder 'indolente Läsionen epithelialen Ursprungs' (Englisch: 'indolent lesion of epithelial origin IDLE').
Auch wenn der Ansatz nachvollziehbar erscheint, er hat doch seine Schwächen. So können Ärzte bislang kaum abschätzen, wie sich ein niedrigmaligner Tumor im Einzelfall entwickeln wird. Genau das sei aber die Voraussetzung, bevor man an der Semantik feilt, so die Kritiker. Abgesehen davon geht eine Relativierung der Risiken möglicherweise an den Bedürfnissen von Patienten vorbei. So gaben Teilnehmerinnen einer Studie zum britischen Brustkrebs-Screeningprogramm an, lieber die Nachteile einer Überversorgung als die einer Unterversorgung in Kauf zu nehmen. Ein neues Wording für Krebsdiagnosen mag also durchaus sinnvoll sein, es müsste aber von weiteren Maßnahmen flankiert werden. Dazu gehört unter anderem, eine Diagnose mit allen ihren Konsequenzen bestmöglich zu erklären - egal, ob nun der Terminus 'indolente Läsion epithelialen Ursprungs' gewählt oder schlicht von Krebs gesprochen wird. Ob Ärzte sich der Macht ihrer Wörter in jeder Situation bewusst sind, bleibt für den Moment offen.