Mensch und Maschine in trauter Harmonie: Dank neuroprothetischer Innovationen übernehmen Medizinprodukte immer häufiger Aufgaben, die Nervenzellen nicht mehr leisten, etwa bei Paraplegie oder Retinitis pigmentosa. Aus Forschungslabors kommen weitere Innovationen.
Neuroprothetische Tools wie Herzschrittmacher, Hirnschrittmacher oder Cochlea-Implantate haben längst ihren festen Platz in der Klinik erobert. Vom Erfolg angespornt, versuchen Ärzte und Ingenieure gemeinsam, Lösungen für weitere Leiden zu entwickeln – mit Erfolg.
Bei schweren Erkrankungen des zentralen Nervensystems, etwa Querschnittslähmung, Hirnstamminfarkt oder amyotropher Layeralsklerose, setzen Forscher große Erwartungen in Brain-Computer-Interfaces (BCIs), also Schnittstellen zwischen PC und Patient, um externe Geräte anzusteuern. Hier wird zwischen invasiven und nichtinvasiven Varianten unterschieden. Wissenschaftlern der Universität Bremen ist es in kontrovers diskutierten Experimenten mit Makaken gelungen, ein schnelles BCI zu entwickeln. Platzierten sie Elektroden im motorischen Kortex, gelangen präzisere Messungen. Ihr Fazit: Es ist generell möglich, Signale der visuellen Aufmerksamkeit in Computersignale zu transformieren. Basierend auf diesen Resultaten wollen sie jetzt klären, wie Signale beispielsweise zur Steuerung eines Rollstuhls eingesetzt werden könnten. Professor Dr. Gabriel Curio, Berlin, bleibt im nichtinvasiven Bereich. Er untersucht ultrahochfrequenten EEG-Oszillationen im somatosensorischen System, die mit kortikalen Aktionspotentialen in Verbindung stehen. Vor einigen Jahren stellte Curio bereits eine „mentale Schreibmaschine“ vor, mit der Patienten über Oberflächen-EEGs einen Computer ansteuern. Für Paraplegien gibt es noch weitere Möglichkeiten.
Professor Yoshiyuki Sankai von Cyberdyne, Japan, hat für diese Patienten ein intelligentes Exoskelett entwickelt, bekannt als Hybrid Assistive Limb® (HAL®). Gelangen Nervensignale vom Gehirn zu den Muskeln, lassen sich an der Hautoberfläche elektrische Impulse abgreifen. Ein Mikrocomputer erkennt die Bewegungsidee und setzt sie über Elektromotoren in Laufmuster um. Mit dem System gelingen bei inkompletten oder tiefen Querschnittslähmungen Schritte, die wegen zu schwacher Nervenimpulse nicht mehr möglich sind. Am berufsgenossenschaftlichen Universitätsklinikum Bergmannsheil untersuchen Kollegen unter Leitung von Professor Dr. Thomas A. Schildhauer jetzt, ob sich die Symptomatik bei inkompletter Querschnittlähmung verbessert, falls Patienten regelmäßig mit dem Exoskelett auf dem Laufband üben. „Wir beobachten durch das Training mit dem Anzug eine deutlich gesteigerte Mobilität der gelähmten Patienten, einen intensivierten Muskelaufbau, mehr Muskelleistung und ein höheres Aktivitätsniveau“, so Schildhauer. Ingenieure des Fraunhofer IBMT haben sich einen anderen Schwerpunkt gesetzt. Sie arbeiten im Rahmen von „Myoplant“ an implantierbaren Systemen, um Handprothesen zu steuern. Ihre Herausforderung: nicht nur motorische Aktionen ausführen, sondern dem Nutzer sensorische Rückmeldungen geben, etwa über Temperatur oder Textur des Materials. Am Deutschen Primatenzentrum hat das Myoplant-Gesamtsystem seine Feuertaufe bereits bestanden, wobei bis zur Serienreife noch viel Arbeit auf die Forscher wartet.
Im Gegensatz hat die Tiefenhirnstimulation längst Einzug in Klinken gehalten – weltweit bekamen bislang 75.000 Menschen entsprechende Geräte implantiert. Anfang 2013 implantierten Kollegen aus Magdeburg erstmals einen Hirnschrittmacher bei Neuroakanthozytose, das sind seltene Bewegungsstörungen unterschiedlicher Genese. Vom Erfolg angespornt, arbeiten Forscher an Komponenten zur elektrophysiologischen und neurochemischen Langzeitüberwachung bei therapieresistenter Epilepsie. Hier sind invasive Ableitungen mit implantierten Elektroden erforderlich, was zu Infektionen oder Blutungen führen kann. Mit dem neuen System INCRIMP sollen künftig neben langfristigen Messungen auch gezielte Mikrostimulationen zerebraler Strukturen möglich werden. Dafür haben Werkstoffforscher eigens Elektroden auf Basis von Kohlenstoffnanoröhren entwickelt. Die Implantate kommunizieren drahtlos mit externen Komponenten zur Steuerung beziehungsweise zur Datenerfassung. Darüber hinaus rücken Clusterkopfschmerzen mehr und mehr in das Interesse von Neurologen. Sie implantieren Systeme zur Neurostimulation in den Kiefer. Sobald Clusterattacken auftreten, aktivieren Patienten über eine externe Konsole das Gerät, und elektrische Reize stimulieren das Ganglion pterygopalatinum. Eine multizentrische, randomisierte, placebokontrollierte Studie hat jetzt gezeigt, dass das Tool bei 67,1 Prozent aller Attacken nach 15 Minuten Schmerzen linderte – im Vergleich zu 7,4 Prozent unter Placebo. Die Autoren bewerten ihr System bei Clusterkopfschmerzen als „effektive, neue Therapie mit doppeltem Nutzen, nämlich akuter Schmerzlinderung sowie präventivem Effekt“.
Auch die Ophthalmologie profitiert von neuroprothetischen Innovationen. „Seit 15 Jahren arbeitet ein Verbund aus Kliniken und Instituten an der Entwicklung elektronischer Netzhautimplantate“, sagt Dr. Walter-G. Wrobel von der Retina Implant AG. „Das Naturwissenschaftliche und Medizinische Institut an der Universität Tübingen war von Anfang an mit dabei und hat unseren Erfolg mit seiner Expertise in der Nerv-Chip-Kopplung entscheidend mitgestaltet.“ Davon profitieren Patienten mit Retinitis pigmentosa (RP) oder altersbedingter Makuladegeneration (AMD). Um den Verlust von Rezeptorzellen in der Netzhaut auszugleichen, implantieren Ärzte das Argus II-System auf der Netzhautoberfläche. Eine Spezialbrille überträgt Bilder drahtlos an elektronische Komponenten. „Dieses neue, chirurgisch implantierbare Hilfsmittel ist eine Option für Patienten, die ihr Augenlicht aufgrund von RP verloren haben, und für die es keine von der FDA zugelassenen Behandlungen gibt“, so Jeffrey Shuren, Direktor des FDA Center for Devices and Radiological Health. „Das Gerät kann Erwachsenen mit RP, die Formen und Bewegung nicht mehr wahrnehmen, mobiler machen und ihnen helfen, ihre täglichen Aktivitäten wahrzunehmen.“ Bleibt als Option, lichtempfindliche Mikrochips direkt unter der Netzhaut zu platzieren, ohne dass externe Kameras nötig wären. Im Zuge von FutureRet versuchen Ingenieure und Ärzte, die optische Auflösung und die Korrosionsbeständigkeit ihrer Implantate zu verbessern. Integrierte Schaltungen tragen dazu bei, den Energieverbrauch zu senken.
Durch Fortschritte bei Computersystemen und durch die immer stärkere Miniaturisierung elektronischer Komponenten erzielten Arbeitsgruppen beeindruckende Erfolge, um Patienten mehr Lebensqualität zu bieten. Zahlreiche Ideen haben den Sprung von der Grundlagenforschung zur Anwendung längst geschafft, bei anderen Projekten gibt es vielversprechende Resultate aus Tierexperimenten. Es bleibt spannend, auch in den nächsten Jahren.