Haarausfall ist mehr als nur ein kosmetisches Problem. Menschen leiden psychisch stark unter fehlenden Haaren. Aktuell gibt es nur wenige Pharmaka zur Behandlung. Biologen versuchen jetzt, den Stoffwechsel gezielt zu steuern und Implantate aus Stammzellen zu entwickeln.
Schätzungsweise 80 Prozent aller Männer und 42 Prozent aller Frauen haben mit androgenetischen Alopezien unterschiedlicher Ausprägung zu kämpfen. Während bei Männern zu Beginn meist Geheimratsecken auffallen, verlieren Frauen vor allem im Bereich des Mittelscheitels Haare.
© Deutsche Dermatologische Gesellschaft Dermatologen haben in ihrer bereits leicht angestaubten S3-Leitlinie zur Behandlung der androgenetischen Alopezie diverse Therapiemöglichkeiten kritisch unter die Lupe genommen. Bei der Auswertung von Literaturquellen fanden die Autoren 396 Artikel, davon erfüllten 85 Papers die methodischen Einschlusskriterien. Letztlich bekamen nur Minoxidil und Finasterid gute Bewertungen. Minoxidil eignet sich gleichermaßen für Frauen und Männer. Aus dem Prodrug entsteht durch das Enzym Sulfotransfrease in Follikeln während der Anaphase Minoxidilsulfat. Die Durchblutung verbessert sich und Zellen schütten vermehrt Wachstumsfaktoren wie den Vascular Endothelial Growth Factor (VEGF) und den Hepatozyten-Wachstumsfaktor (HGF) aus. Zudem werden vermehrt schützende Prostaglandine gebildet. Bei Männern ist die 5%ige Formulierung wirksamer, bei Frauen brachte diese im Vergleich zu 2%igem Minoxidil keinen signifikanten Mehrwert. Falls Patienten ihr Präparat wieder absetzen, fallen ihre Haare mittelfristig wieder vermehrt aus. Für von Haarausfall geplagte Männer gibt es noch eine weitere Option. Im männlichen Stoffwechsel ist Dihydrotestosteron (DHT) ein zentrales Molekül. DHT-sensitive Follikel reagieren, indem sich ihre Anagenphase verkürzt, und das Haar fällt schneller aus. Zudem gibt es Hinweise auf eine Hochregulierung des Insulin-like Growth Factor 1 (IGF-1). Hier kommt Finasterid zum Einsatz. Es senkt als 5α-Reduktasehemmer den DHT-Spiegel im Blut. Dutasterid wirkt ähnlich, hat aber keine Zulassung bei androgenetischen Alopezien.
Neue Studien haben Finasterid und Dutasterid bei Männern in ein schlechtes Licht gerückt. Tina Kiguradze und William H. Temps von der Northwestern University, Chicago, bringen beide Pharmaka mit persistierenden erektilen Dysfunktion (PED) in Verbindung. Die US Food and Drug Administration hatte entsprechende Warnungen schon früher ausgesprochen, jedoch bei deutlich schlechterer Datenlage. Ein Großteil aller Studien hatte methodische Verzerrungen. Kiguradze und Temps werteten Daten von 11.909 Männern aus, denen Ärzte aus unterschiedlichen Gründen einen 5α-Reduktasehemmer verordnet hatten. Ihre Probanden waren 16 bis 89 Jahre alt. Bei 167 Personen (1,4 Prozent) kam es zur PED. Nach dem Absetzen des Präparats dauerte es im Mittel 1.348 Tage, bis es wieder zu normalen Erektionen kam. Damit sei die Pharmakotherapie als eigener, unabhängiger Risikofaktor zu bewerten, schreiben die Autoren. Sie vergleichen den Effekt mit negativen Folgen von Typ 2-Diabetes, Adipositas, Alkohol-Abusus oder starkem Nikotinkonsum. Für Ärzte und Apotheker schränken sich damit mögliche Pharmakotherapien weiter ein.
Deshalb suchen Wissenschaftler mit großem Eifer nach neuen Zielstrukturen. Einer Arbeitsgruppe um Aimee Flores vom Department of Molecular Cell and Developmental Biology an der UCLA ist es gelungen, Haarfollikelstammzellen zu aktivieren. Im Mittelpunkt ihrer Experimente stand die Frage, welche Faktoren ruhende Follikel aus der Telogenphase in die Anagenphase mit erneutem Wachstum überführen. Die Ergebnisse waren überraschend. Wandeln Zellen Glucose in Pyruvat um und verstoffwechseln es in ihren Mitochondrien, bleiben die Zellen im Dornröschenschlaf. Bildet sich aus dem Zucker jedoch Lactat, werden Haarfollikelstammzellen zur Haarproduktion anregt. Flores identifizierte gleich zwei geeignete Kandidatenmoleküle, um regulierend einzugreifen. RCGD423 wirkt als Inhibitor des intrazellulären JAK-STAT-Signalwegs, was zu mehr Lactat in den Stammzellen führt. Alternativ verhindert UK5099 die Pyruvat-Aufnahme in Mitochondrien der Haarfollikelstammzellen. Im Tierexperiment lösten beide Moleküle Haarwachstum aus. Unbehandelte und mit UK5099 behandelte Haut der Maus im Vergleich (v.l.). Durch den Arzneistoff wuchsen neue Haare. © UCLA Broad Stem Cell Center
Stammzellen sind noch in anderer Hinsicht interessant. Im Labor stellten japanische Forscher aus induzierten pluripotenten Stammzellen (iPS-Zellen) von Wildtyp-Mäusen sogenannte „Embryoid bodies“, also dreidimensionale Gewebeklumpen, her. Durch Zugabe von Signalproteinen wie Wnt10b entstanden schließlich Hautzellschichten mit Haarfollikeln. Anschließend transplantierten sie haarfreien Nacktmäusen kleine Gewebestücke. Die Tiere haben aufgrund genetischer Anomalien keinen Thymus und keine Körperbehaarung. Nach 14 Tagen wuchsen in diesem Bereich Haare. Auch anatomisch zeigten sich keine Besonderheiten: Querschnitt durch normale Haut und durch ein Implantat aus iPS-Zellen nach der Transplantation © RIKEN Center for Developmental Biology Co-Autor Takashi Tsuji zufolge sei das Verfahren generell auch für Menschen geeignet. Er arbeitet am RIKEN Center for Developmental Biology im japanischen Kobe. Ob Tsuji Recht behält, werden neue Studien zeigen. Die Chancen für neue Behandlungsmethoden stehen gut.