Wer nach EU-Vorschriften zu Medizinprodukten sucht, stößt auf Dokumente aus den 1990er Jahren. Jetzt haben Gesundheitsexperten ein umstrittenes Paket geschnürt. Reichen die geplanten Maßnahmen wirklich aus, um Medizinprodukte sicherer zu machen oder versuchen Politiker, aufgebrachte Bürger nach dem PIP-Skandal zu beruhigen?
Vom einfachen Pflaster über Blutzuckermessstreifen oder Schwangerschaftstests bis hin zu Implantaten: Medizinprodukte umfassen ein weites Spektrum rund um Diagnostik und Therapie. Jahr für Jahr setzen Hersteller, Apotheker und Kliniken EU-weit damit 95 Milliarden Euro um. Nach dem Skandal um Brustimplantate mit schädlichem Industriesilikon hat die Europäische Union endlich ein Papier vorgelegt, das auch Apotheker mit ins Boot holt. Doch zuvor gab es hitzige Diskussionen.
Wie streng soll ein Staat Medizinprodukte kontrollieren? An dieser Frage schieden sich die Geister. Dagmar Roth-Behrendt, Europaabgeordnete der SPD, hatte sich für eine Zulassung von Hochrisikoprodukten durch die European Medicines Agency (EMA) stark gemacht, ähnlich wie bei Arzneimitteln. Die Sozialdemokratin konnte sich aber nicht durchsetzen. Sie monierte, Konservative und Liberale hätten „auf Druck der Hersteller-Lobby die Einführung einer Zulassung blockiert“. Volker Kauder, Vorsitzender der CDU/CSU-Bundestagsfraktion, stellte klar: „Es ist ein Irrglaube, dass ein staatliches Zulassungssystem den Brustimplantate-Skandal verhindert hätte. Die Behörde hätte ebenso wenig vorhersehen können, dass der Hersteller nach erstmaliger Zulassung die Zusammensetzung des Silikon-Gels verändert.“ Er will weg vom Fokus der Produktzulassung und stattdessen Versorgungsprozesse optimieren. Parteikollegen befürchten, mit allzu großen Hürden Innovationen auszubremsen. Joachim M. Schmitt vom Bundesverband Medizintechnologie (BVMed) hält derzeitige Rahmenbedingungen für „absolut ausreichend, um sichere, leistungsfähige und wirksame Medizinprodukte herstellen und in Verkehr bringen zu können“. Schließlich verständigte sich die europäische Kommission auf eine abgespeckte Version aus mehreren Einzelmaßnahmen. Alle Vorschläge werden erst einmal im Europäischen Parlament und im Europäischen Rat diskutiert. Bestenfalls treten neue Regelungen ab 2014 bis 2019 dann schrittweise in Kraft.
Im Mittelpunkt des EU-Papiers stehen Konformitätsbewertungsstellen, sprich „benannte Stellen“ wie TÜV oder Dekra. Diese sollen künftig größere Spielräume bekommen, um Hersteller unangekündigt zu besuchen und vor Ort Proben zu ziehen. Kontrolleure selbst wollen EU-Gesundheitsexperten an die kurze Leine nehmen. Sie müssen sich zuallererst akkreditieren, bevor sie ihrer Arbeit nachgehen. Versagen Prüfer, ist es möglich, ihre Zulassung einzukassieren. Das beinhaltet eine strengere Aufsicht durch staatliche Behörden. Hersteller wiederum profitieren von klarer definierten Rechten beziehungsweise Pflichten.
In-vitro-Diagnostika müssen bald nach ihrem Sicherheitsrisiko klassifiziert werden, wie bei Hüftgelenken oder Herzschrittmachern längst üblich. Politiker planen eine zentrale Datenbank, Eudamed genannt, um alle Informationen zu erfassen und Health Professionals, aber auch Patienten, zu informieren. Darüber hinaus sind Hersteller in der Pflicht, sensible Produkte über die gesamte Lieferkette zurückzuverfolgen. Sollte – wie kürzlich bei Brustimplantaten geschehen – ein Rückruf erforderlich sein, hätten staatliche Behörden bessere Chancen, alle Betroffenen zu erreichen. Und um nationale Einzelinteressen unter einen Hut bringen, sehen Politiker eine Koordinierungsstelle in der Pflicht.
Böse Zungen behaupten, dass auf diese Koordinierungsstelle extrem viel Arbeit zukommen wird. Ein aktuelles Beispiel: Nicht immer lässt sich zweifelsfrei klären, ob Präparate eher Arzneimittel oder Medizinprodukt sind. Kürzlich musste sogar der Europäische Gerichtshof (EuGH) eingreifen. In der Sache ging es um Gynocaps, also Vaginalkapseln. Sie enthalten Milchsäurebakterien, um die Scheidenflora zu normalisieren. Zahlreiche Länder stufen Gynocaps als Medizinprodukt ein, ursprünglich auch Finnland. Der nördliche EU-Mitgliedsstaat änderte seine Einschätzung, und plötzlich waren besagte Vaginalkapseln ein Arzneimittel – sehr zum Ärger des Herstellers, der plötzlich eine Genehmigung benötigte. Prompt kam es zum juristischen Showdown. Anfang Oktober veröffentlichte der Europäische Gerichtshof seine Vorentscheidung. Danach sind Länder berechtigt, Präparate im Graubereich entweder als Medizinprodukt mit CE-Kennzeichnung oder als Arzneimittel einzustufen. Juristen sind darüber nicht sonderlich erstaunt. Seit dem EuGH-Urteil zu Fremd- und Mehrbesitz ist klar, dass Richter Interessen von Staaten durchaus respektieren.
Pharmazeuten haben hinsichtlich der Neuerungen noch ganz andere Bedenken. Beim letzten Apothekertag forderten sie die EU auf, „sachgerechte Regelungen“ zu verabschieden, ohne „unnötige Bürokratie“. Kommt es tatsächlich zur lückenlosen Überwachung aller Vertriebswege und Vertriebsstufen, müssen Kollegen vor Ort zumindest grundlegende Anforderungen eines jeden Medizinprodukts überprüfen – Aufwand inklusive. Zusätzliche Parallelwelten mag jedoch niemand aufbauen. Schließlich hat securPharm im Bereich der Arzneimittelversorgung seine Feuertaufe längst bestanden. Das System zur Überwachung etablierter Vertriebswege würde sich ebenfalls für apothekenübliche Medizinprodukte eignen. Warum EU-Politiker nicht stärker in diese Richtung denken, bleibt unverständlich.