Undichte Abklingbecken, Radioaktivität im Boden und verseuchtes Meerwasser: Fukushima ist zum Horrorbild der Kernenergie geworden. Um Krebsrisiken abzuschätzen, leisten Zähne einen wichtigen Beitrag.
Bei der Havarie von Kernkraftwerken wie zuletzt in Fukushima gelangen große Mengen radioaktiver Isotope in die Umwelt: Iod-131 (physikalische Halbwertszeit acht Tage), Caesium-137 (30,17 Jahre) und Strontium-90 (28,78 Jahre). Ähnliche Nuklide könnten durch „schmutzigen Bomben“ freigesetzt werden. Nach einem nuklearen Großereignis macht eine Triage Probleme. Patienten, die niedrigen Dosen ausgesetzt wurden, bleiben zwar von akuten Symptomen einer Strahlenkrankheit verschont, erkranken jedoch häufiger an Krebs. Wie hoch das individuelle Risiko tatsächlich ist, lässt sich bei Strontium-90 über Zähne ermitteln.
Dazu etwas Theorie: Calcium und Strontium stehen in der gleichen Hauptgruppe des Periodensystems. Sie haben damit ähnliche Eigenschaften. Über unsere Nahrung resorbieren Zähne und Knochen zwischen 50 und 350 Mikrogramm Strontium pro Gramm Calcium, wobei es sich normalerweise um stabile Isotope wie Strontium-86, -87 oder -88 handelt. Nicht so in Fukushima: Während der Entwicklungsphase lagert kindliche Zahn- und Knochensubstanz besonders viel Strontium-90 aus der Nahrung ein. Erwachsene sind ebenfalls betroffen. Bei ihnen gelangen suspekte Ionen durch passive Austauschvorgänge in den Zahnschmelz und bleiben dort geraume Zeit. Lange biologische (49 Jahre) und physikalische Halbwertszeiten (28,78 Jahre) führen zu hohen Strahlendosen für Knochen und Zähne – mit möglichen Spätfolgen.
Das zeigen Arbeiten von Joseph J. Mangano und Janette D. Sherman, New York. Sie bekamen aus einer Sammlung des Bundesstaats Missouri sage und schreibe 85.000 Milchzähne von US-Amerikanern zur Verfügung gestellt, die zwischen 1959 und 1961 geboren worden waren. Damals beförderten oberirdische Atomwaffentests viel Strontium-90 in die Atmosphäre. Zu jeder Probe hatten Forscher umfangreiche Informationen, vom Aufenthaltsort der Mutter und des Babys bis hin zu Ernährungsgewohnheiten. Weiter ging es mit Wählerverzeichnissen, Sterberegistern und Fragebögen. Schließlich identifizierten Mangano und Sherman 97 Zähne der ersten Dentition von 78 Krebspatienten – 65 Menschen lebten noch. Die restlichen 13 waren mit einem Durchschnittsalter von rund 40 Jahren verstorben. Mangano und Sherman verglichen besagte Proben mit 194 Zähnen von Probanden ohne maligne Erkrankung. Dabei kam ein Flüssigkeitsszintillationszähler zum Einsatz. Ihr Fazit: Bei Tumorerkrankungen lag der Gehalt an Strontium-90 statistisch mit 7,00 Picocurie pro Gramm signifikant über den Werten der Kontrolle, nämlich 3,16 Picocurie pro Gramm. Möglicherweise verstarben weitaus mehr Menschen an radioaktivem Fallout als bislang angenommen, vermuten die Autoren. Sie zitieren Untersuchungen der US-Regierung mit 35.000 Krebsfällen – respektive 15.000 Todesfällen – durch Atombombentests. Im Falle des japanischen Unglücksreaktors könnten Messungen helfen, Krebsrisiken frühzeitig und mit vergleichsweise geringem Aufwand nachzuweisen. Japanische Regierungskreise sind von der wissenschaftlichen Methode aber nicht wirklich begeistert.
Wissenschaftlich gibt es ebenfalls Grund zur Kritik: Strontium-90 ist zwar ein wichtiges Isotop, das bei nuklearen Unfällen oder Anschlägen freigesetzt wird, der Fallout ist jedoch wesentlich komplexer. Aussagen zur Gesamtbelastung von Patienten, etwa durch Gamma- oder Röntgenstrahlung ohne Inkorporation, können Ärzte jedoch nicht treffen. Doch es gibt Alternativen aus der Welt der theoretischen Physik: Hochenergetische Gamma- oder Röntgenstrahlung erzeugt in kristallinem Hydroxylapatit aus Zähnen ungepaarte Elektronen. Sie haben einen charakteristischen Spin, sprich Eigendrehimpuls. Über die Elektronenspinresonanz (EPR, Electron Paramagnetic Resonance) lassen sich entsprechende Defekte im Kristall bestimmen. Legen Forscher ein äußeres Magnetfeld an, führt dies zu zwei Spinzuständen, nämlich parallel und antiparallel zu Feldlinien. Mit elektromagnetischer Strahlung geeigneter Frequenz gelingt es, Spins vom energetisch günstigen in den ungünstigen Zustand umzuklappen und die Energieaufnahme zu messen: ein Maß für Gitterdefekte. Schon im Zuge ihrer Adult Health Studies haben Ärzte und Physiker Überlebende der Atombombenabwürfe mit EPR-Spektrometern untersucht. Chromosomenaberrationen korrelieren mit der von Zähnen absorbierten Strahlendosis – ein Argument für diese Form der retrospektiven Dosimetrie. Harold M. Swartz hat das physikalische Prinzip aus dem Labor zum Patienten gebracht – im eigens gegründeten EPR Center for the Study of Viable Systems, Geisel School of Medicine in Dartmouth. Zusammen mit seinem Team entwickelte er tragbare Spektrometer für den Feldeinsatz. Swartz benötigt weder Zähne der ersten Dentition noch extrahierte Zähne. Vielmehr legen Patienten ihren Kopf zwischen ein Spulenpaar – hier entsteht das notwendige Magnetfeld. Durch einen Beißblock werden Schneidezähne exakt ausgerichtet. Bereits nach weniger als fünf Minuten liegen Messergebnisse vor. Swartz sieht das Potenzial entsprechender Geräte vor allem bei nuklearen Unfällen oder Anschlägen, um schnell eine Triage vorzunehmen. Ansonsten wäre es schwierig, Patienten zu identifizieren, die weder Radionuklide inkorporiert haben noch Symptome einer Strahlenkrankheit zeigen, aber möglicherweise hohen Dosen an Gammastrahlung ausgesetzt waren.