Zu Risiken und Nebenwirkungen lesen Sie die Packungsbeilage und fragen Sie Ihren Arzt oder Apotheker. Eine neue Studie stellt diesen Satz stark infrage: Bei statistischen Aussagen kommen nicht nur Patienten, sondern auch Health Professionals ins Schleudern.
Dass Laien mit Risikoeinschätzungen ihre liebe Not haben, verwundert niemanden. Bereits im Jahr 2009 veröffentlichte Dr. Peter Knapp von der School of Healthcare, University of Leeds, eine viel zitierte Arbeit. Er untersuchte, inwieweit Patienten Nebenwirkungen und Risiken medizinischer Behandlungen richtig interpretieren. Dazu wurden 187 Probanden, die – vermeintlich an Krebs erkrankt – mit dem selektiven Estrogenrezeptormodulator Tamoxifen behandelt werden sollten, drei Gruppen zugewiesen. Sie sollten abschätzen, wie wahrscheinlich verschiedene Nebenwirkungen bei dieser Therapie auftreten. Als Informationsmaterial gab es textliche Beschreibungen ("häufige Nebenwirkungen"), absolute Zahlen ("Nebenwirkungen bei weniger als einem von zehn Patienten") oder kombinierte Aussagen. Wer nur Zahlen erhielt, schätzte sein eigenes Risiko besonders genau ab, lautete die Quintessenz. Studienteilnehmer fühlten sich gut informiert und waren mit den Fakten zufrieden. Probanden, die Texte bekamen, bewerteten mögliche Gefahren jedoch als zu hoch. Kombinationen beider Quellen führten zu keiner Verbesserung der Lage. Letztlich sinkt die Therapietreue – und viele Patienten verzichten auf ihr Präparat, ohne dass Arzt oder Apotheker dies erfahren.
Grund genug für die Europäische Kommission, auf Basis von WHO-Empfehlungen eine "Guideline on Summary of Product Characteristics" (SmPC) zu entwickeln. Ausgehend von diesem Dokument hat das Bundesinstitut für Arzneimittel und Medizinprodukte (BfArM) textliche Beschreibungen von Nebenwirkungen in folgende Kategorien eingeteilt:
Entsprechende Termini müssen auf jedem Beipackzettel erklärt werden, und das Ganze bekommt sogar noch eine mehr oder minder auffällige, schwarze Umrandung. Ob diese Maßnahmen fruchten, ist mehr als fraglich: Mit der Abschätzung von Risiken haben nicht nur Laien ihre liebe Not, sondern auch Health Professionals. Das hat eine kürzlich im Deutschen Ärzteblatt International veröffentlichte Studie ergeben. Wie zuvor schon Dr. Peter Knapp, verweisen auch Professor Dr. Andreas Ziegler und Professor Dr. Inke R. König, Lübeck, auf verschiedene Darstellungsmethoden arzneimittelbezogener Risiken. Wahrscheinlichkeiten lassen sich graphisch, numerisch (als Prozentangabe oder als Verhältnis) sowie verbal kommunizieren. Je nach Methode kommt es zu teilweise eklatanten Missverständnissen und stark sinkender Compliance. Ziel der aktuellen Arbeit war, zu untersuchen, inwieweit Ärzte, Apotheker und Juristen textliche Darstellungen richtig interpretieren.
Dazu verschickten sie Fragebögen an 600 Ärzte (Internisten sowie Anästhesisten), 200 Apotheker und 200 Juristen. Ihr Ziel: bei entsprechenden Berufsgruppen das Verständnis von Nebenwirkungsrisiken in Beipackzetteln abzuklären. Wie die Wissenschaftler schreiben, sind Rechtsgelehrte mit aufgenommen worden, da im Gerichtssaal "über die Wahrscheinlichkeit von Behandlungsfehlern oder berufsbedingten gesundheitlichen Risiken und damit verbundene Berentungen" verhandelt wird. Die Rücklaufquote lag bei 60,4 Prozent. Im ersten Teil sollten 20 Wahrscheinlichkeitsaussagen wie "selten", "niemals", "sicher", "unsicher", "oft" etc. jenseits medizinisch-pharmazeutischer Zusammenhänge mit Prozentangaben versehen werden. Weitere Fragen standen in fachlichem Kontext. Beispielsweise galt es, einen Hypertoniker über Risiken seiner Pharmakotherapie aufzuklären – mit Prozentangaben zu "häufig", "gelegentlich" und "selten". Eine weitere Aufgabe bestand darin, exakte Zahlen (1:1.000, 1:100, 1:10, 1:4, 1:2) in Begrifflichkeiten zu übertragen.
"Nur wenige Experten haben den Begriffen 'häufig', 'gelegentlich' und 'selten' im Kontext von Nebenwirkungen den richtigen Prozentwert zugeordnet", sagt Andreas Ziegler. Dazu ein paar Details: Ärzten trafen akkurate Werte für "häufig" zu 3,5 Prozent, für "gelegentlich" zu 0,3 Prozent und für "selten" zu 0,9 Prozent. Bei Juristen lagen die Treffer für "häufig", "gelegentlich" und "selten" bei 0,7 Prozent, 0 Prozent und 0,7 Prozent. Apotheker schnitten vergleichsweise gut ab. Sie schätzten entsprechende Termini bei 5,8, 1,9 und 1,9 Prozent aller Antworten richtig ein. Inke König: "Die größten Probleme gab es beim Begriff 'häufig'. Hier haben Ärztinnen und Ärzte im Mittel eine Nebenwirkungsrate von 60 Prozent angegeben." Apotheker schätzten 50 Prozent und Juristen sogar 70 Prozent. Tatsächlich bewegt sich der Wert zwischen 1,0 und 10,0 Prozent. Nicht anders sah es bei "gelegentlichen" Nebenwirkungen aus. Ärzte sprachen von 10, Apotheker von 10 und Juristen von 20 Prozent Wahrscheinlichkeit. Laut BfArM bewegt sich der Bereich zwischen 0,1 und 1,0 Prozent. Und nicht zuletzt galt es, das Wort "selten" zu bewerten. Ärzte gaben als Wahrscheinlichkeit 5,0, Apotheker mit 3,0 und Juristen mit 5,0 Prozent an. Tatsächlich ist von 0,01 bis 0,1 Prozent die Rede. "Auch wenn Apothekerinnen und Apotheker bei allen Begriffen am besten abgeschnitten haben, ist es überraschend, wie häufig Experten die Nebenwirkungsrisiken überschätzt haben", kommentiert Andreas Ziegler.
Obwohl Behörden wichtige Begriffe zur Beschreibung von Nebenwirkungen klar definieren, bestehen bei Health Professionals große Unsicherheiten. Sie gehen von zu hohen Risiken aus, was für die Compliance ihrer Patienten fatale Folgen hat. Die Autoren folgern, dass "Definitionen der Begriffe nach dem BfArM nicht dem alltäglichen Gebrauch entsprechen". Eine Option: Bislang übliche Codierungen seien so zu überarbeiten, dass "die verbalen Umschreibungen eher dem umgangssprachlichen Verständnis von Wahrscheinlichkeiten entsprechen". Das BfArM hält die aktuelle Form jedoch für angemessen: "Wir wollen die Verbraucher über alle denkbaren Risiken informieren, dazu hat man sich auf die vorliegende Form geeinigt", sagt ein Sprecher.