Untersuchungen zur Wirtschaftskrise rücken ein Thema stärker in den Mittelpunkt: den Suizid. Forscher setzen große Erwartungen in Bluttests und suchen nach protektiven Faktoren. Gleichzeitig stehen Therapien auf dem Prüfstand.
Im Jahr 2008 geriet die Welt nicht nur wirtschaftlich in Schieflage. Parallel zu geplatzten Krediten und „Bad Banks“ warnen Psychiater vor deutlich steigenden Suizidraten. Das betrifft keineswegs nur besonders gebeutelte Nationen wie Griechenland oder Spanien, berichtet Shu-Sen Chang jetzt im BMJ (British Medical Journal).
Chang arbeitet an den Universitäten von Hong Kong und Bristol. Seine Arbeit umfasst Daten der Weltgesundheitsorganisation WHO aus 54 Ländern. Als Vergleichszeitraum zog Chang die wirtschaftlich stabileren Jahre 2000 bis 2007 heran. Sein Ergebnis: Im Jahr 2009 nahmen sich 4.884 Menschen mehr das Leben, als statistisch zu erwarten gewesen wäre. Besonders deutlich fiel der Effekt bei jungen Männern unter 25 aus (plus 11,7 Prozent). Das Risiko sank mit zunehmendem Alter – und jenseits der 65 gab es keinen signifikanten Anstieg mehr. Unter allen Nationen entschieden sich Männer aus den USA (plus 6,4 Prozent) und aus Europa (plus 4,2 Prozent) besonders häufig für einen Freitod. Bei Frauen fand der Wissenschaftler keine signifikanten Veränderungen – mit einer Ausnahme: In neuen EU-Mitgliedsstaaten gab es sowohl bei Männern (plus 13,3 Prozent) als auch bei Frauen (plus 7,7 Prozent) deutlich mehr Suizide. Chang erklärt seine Resultate – nicht weiter verwunderlich – mit teils dramatisch gestiegener Arbeitslosigkeit, vor allem bei jungen Menschen. Dass Männer deutlich häufiger als Frauen keinen Ausweg mehr sehen, könnte einerseits mit ihrer Rolle als Hauptverdiener zu tun haben, spekuliert der Autor. Als weiteren Grund sieht er geschlechtsspezifische Verhaltensweisen wie die mangelnde Bereitschaft, Hilfe zu suchen, sich psychotherapeutisch beziehungsweise medikamentös behandeln zu lassen.
Weitere Arbeitsgruppen stellen Pharmakotherapien auf den Prüfstand. Bei Patienten mit Affektstörung greifen Psychiater oft zu Lithiumsalzen. Ob zu Recht, fragte sich jetzt Andrea Cipriani. Er forscht an den Universitäten von Verona beziehungsweise Oxford. In seiner Metaanalyse nahm Cipriani 48 randomisierte, kontrollierte Studien mit insgesamt 6.674 Teilnehmern auf. Gemessen an Placebos verringerte Lithium die Zahl an Selbstmorden signifikant um 93 Prozent. Weniger deutlich fiel der Vergleich mit anderen Pharmaka aus, beispielsweise Amitriptylin, Carbamazepin, Imipramin, Lamotrigin oder Valproinsäure: Lediglich bei Carbamazepin fand Cipriani einen signifikanten Mehrwert der Lithiumpräparate. Dem gegenüber stünden Nachteile, etwa die geringe therapeutische Breite sowie zahlreiche Nebenwirkungen von Lithium, schreibt der Autor. Um therapeutische Spiegel zwischen 0,6 und 1,2 mmol/l einzustellen, sind zumindest anfangs engmaschige Laboruntersuchungen notwendig.
Jenseits der Pharmakotherapie suchen Psychiater weltweit nach protektiven Faktoren. Eine schwedische Arbeit befasst sich mit der Frage, ob kardiovaskuläre Fitness im frühen Erwachsenenalter vor späteren Suiziden schützt. Margda Waern, Göteborg, hatte für ihre Arbeiten denkbar gute Voraussetzungen – eine Kohorte mit 1.136.527 körperlich und geistig fitten Rekruten stand zur Verfügung. Aufgrund der in Schweden üblichen Personennummer konnte Waern den Weg ihrer Probanden im Gesundheitssystem verfolgen. Für junge Männer, die bei ihrer Musterung auf dem Ergometer schlechte Ergebnisse erzielten, errechnete sie ein um 80 Prozent höheres Risiko für Suizide oder Suizidversuche. Wer im kognitiven Test schlecht abschnitt, war sogar fünf Mal mehr gefährdet als die Vergleichsgruppe.
Um das Suizidrisiko abzuschätzen, wünschen sich vor allem Laien einfache Tests, idealerweise über das Blutbild. Alexander B. Niculescu von der Indiana University arbeitet an entsprechenden Fragestellungen: Zusammen mit Kollegen entdeckte er Biomarker im Blut von Probanden, die eine existenzielle Krise durchmachten. Dazu begleitete sein Team 75 Patienten mit bipolaren Störungen und starken Stimmungsschwankungen über drei Jahre hinweg. Bei jeder Vorstellung in der Praxis bestimmten Ärzte über die Hamilton Depression Scale und über andere Diagnosewerkzeuge, wie schwer depressive Störungen aktuell waren. Gleichzeitig entnahmen sie Blutproben. Niculescu untersuchte im Labor über RNAs, welche Gene besonders aktiv waren. Als interessantestes Genprodukt fand er Spermidine/spermine N(1)-acetyltransferase (SAT1), ein Enzym, das als Antwort auf Stress vermehrt produziert wird. Um die Hypothese zu belegen, folgten Bluttests bei neun Menschen, die durch Selbstmord ihr Leben verloren hatten. Hier ließen sich deutlich erhöhte SAT1-Spiegel nachweisen. Anschließend nahmen Ärzte 56 Schizophrenie-Patienten und 42 Patienten mit bipolarer Störung, die später aufgrund eines Suizidversuchs stationär behandelt wurden, in ihre Studie auf. Alexander B. Niculescu berichtet auch hier von einer gewissen Vorhersagemöglichkeit und gibt als AUC-Wert 0,64 an – 1,00 wäre die perfekte, nicht erreichbare Vorhersage, während 0,5 purem Würfeln entspricht. In Verbindung mit weiteren Tools wie Fragebögen erwarten die Forscher für ihren Test einen Wert von bis zu 0,835. Trotzdem bleiben viele Fragen offen: Alexander B. Niculescu untersuchte Männer – inwieweit lassen sich seine Erkenntnisse auf Frauen übertragen? Und welche Ergebnisse wären von größeren Patientenzahlen zu erwarten? Niculescus Arbeiten zeigen zwar biologische Zusammenhänge, werden das etablierte diagnostische Instrumentarium heute und morgen jedoch nicht ersetzen.