Bereits seit 45 Jahren gibt es Hinweise darauf, dass ASS bei Darmkrebs helfen kann. Welche Darmkrebspatienten offenbar von geringen, täglichen Dosen ASS profitieren, haben Wissenschaftler nun herausgefunden.
Auf dem European Cancer Congress, der vom 27. September bis 1. Oktober in Amsterdam stattfand, berichteten Wissenschaftler, warum Aspirin offenbar manchen Patienten mit Darmkrebs zu einem längeren Überleben verhelfen kann, anderen jedoch nicht. Wahrscheinlich spielt ein Oberflächenprotein auf den malignen Zellen dabei eine entscheidende Rolle. Im Visier der Wissenschaftler steht HLA Klasse 1 (Human Leukocyte Antigen class I), ein Zelloberflächenprotein, das von einer Reihe von Genen produziert wird, die alle an der Aufrechterhaltung des Immunsystems beteiligt sind.
Dr. Marlies Reimers von der Universität Leiden in den Niederlanden erklärte die Hintergründe: „Wir vermuten, dass die Blutplättchen daran beteiligt sind, Krebs im Körper auszubreiten. Sie schirmen die Krebszellen im Blut quasi vor dem Immunsystem ab, sodass sie sich unerkannt in fremden Organen ansiedeln können. ASS könnte dabei helfen, diese Tumorzellen zu demaskieren, indem es die Blutplättchenformation beeinflusst. Dann kann das Immunsystem die Tumorzellen wieder erkennen und eliminieren.“
Dr. Reimers und ihre Kollegen stellten in einer retrospektiven Studie Untersuchungen an Patienten an, die nach ihrer Darmkrebs-Diagnose ASS eingenommen hatten, zwischen 1998 und 2007 in der Eindhoven-Krebskartei registriert waren und älter als 70 Jahre waren. Dabei prüften sie in 999 Fällen, in welchem Ausmaß der Oberflächenrezeptor HLA-1 und das Enzym COX-2 bei den Patienten vorhanden waren. Außerdem isolierten die Forscher DNA aus 663 Tumoren, um sie auf Mutationen im PIK3CA Gen zu untersuchen. Denn sowohl das Vorhandensein des Enzyms COX-2, als auch Mutationen im PIK3CA Gen wurden bereits mit der Entstehung von Darmkrebs in Verbindung gebracht. Außerdem ist bekannt, dass ASS das Enzym COX-2, welches bei etwa 70 % aller Darmtumoren vorkommt, in seiner Funktion hemmt.
Die Auswertungen der Wissenschaftler zeigten, dass nur diejenigen Patienten von der Einnahme geringer Dosen ASS (80 mg pro Tag) profitierten, deren Tumoren HLA-1 auf ihrer Oberfläche trugen. Nahmen diese Patienten ASS ein, verringerte sich ihre Wahrscheinlichkeit in den nächsten vier Jahren zu versterben auf die Hälfte — verglichen mit Patienten, deren Tumorzellen ebenfalls HLA-1 exprimierten, die aber kein ASS einnahmen. Bei Patienten, die überhaupt kein HLA-1 aufwiesen, trat dieser Effekt nicht auf. „HLA-1 könnte daher als Biomarker herangezogen werden, an dem festgemacht werden kann, welche Patienten nach einer Darmkrebsdiagnose von der ASS-Einnahme profitieren können“, so Dr. Reimers. „Unsere Ergebnisse zeigen außerdem, dass das Vorhandensein von COX-2 und Mutationen im PIK3CA Gen offenbar nicht im Zusammenhang mit einer ASS Therapie stehen.“ Seither hatte man genau das Gegenteil angenommen.
Doch Patienten mit einer starken COX-2-Expression hatten keinerlei Überlebensvorteil gegenüber Patienten mit einem geringen COX-2-Vorkommen. Daraus schließen Dr. Reimers und ihre Kollegen, dass ASS auf zwei verschiedenen Wegen gegen Darmkrebs wirkt: Einerseits präventiv, andererseits über die Kontrolle von Metastasen. Dazu Reimers: „Der erste Weg läuft über PIK3CA-Mutationen und die COX-2 Expression. Dieser Weg scheint bei der Prävention von Darmkrebs von Bedeutung zu sein. Vererbungsstudien haben gezeigt, dass ASS helfen kann, den Ausbruch von Darmkrebs zu verhindern, indem es die Bildung von Polypen im Darm reduziert. Darmpolypen sind oft die Vorstufen von Krebs und ihre Entstehung wird mit Mutationen in PIK3CA und der Expression von COX-2 in Verbindung gebracht.“
Der zweite Weg betreffe die Metastasierung und hänge mit den Blutplättchen zusammen, so Reimers. „Im Moment zwar noch reine Spekulation, aber es könnte durchaus sein, dass das Zusammenspiel von Blutplättchen mit HLA-positiven Tumorzellen, die im Blut zirkulieren, das metastasierende Potential der Krebszellen erhöht. ASS stört dieses Zusammenspiel und verhindert dadurch die Bildung von Metastasen, die letztendlich zum Tod des Patienten führen.“ Die Wissenschaftler um Dr. Reimers verweisen auf weitere Studien, die ihre Erkenntnisse möglicherweise stützen könnten. In Großbritannien und Asien läuft bereits eine multizentrische, randomisierte Studie der Phase III (ASCOLT Study), die die Wirkung von Aspirin auf Patienten mit Darmkrebs untersuche. Trotz aller Euphorie lohne auch ein Blick auf die Nebenwirkungen von ASS. Shih-Wei Lai von der School of Medicine der China Medical University in Taichung, Taiwan betonte in seinem Kommentar zur Studie außerdem, dass das Risiko von ASS, Blutungen zu verursachen, stets mit dem möglichen Nutzen des Wirkstoffs bei Darmkrebs abgewogen werden sollte.