Lithium wird seit Jahren zur Behandlung von bipolaren Störungen und Depressionen eingesetzt. Auch bei Demenzerkrankungen zeigen sich positive Effekte. Ein Psychiater hat angesichts steigender Patientenzahlen eine fragwürdige Idee: Trinkwasser mit Lithium zu versetzen.
Seit rund 60 Jahren setzen Ärzte bei bipolaren Störungen und bei schweren Depressionen auf Lithiumsalze. „Wir haben bei unseren Patienten immer wieder beobachtet, dass Lithium eines der wenigen Medikamente ist, welches langfristig Suizidgedanken ausschalten kann“, sagt Professor Dr. Michael Bauer, Direktor der Klinik und Poliklinik für Psychiatrie und Psychotherapie am Universitätsklinikum Carl Gustav Carus in Dresden. Selbst nach so langer Zeit überrasche das Arzneimittel mit neuen Wirkaspekten.
Michael Bauer © Uniklinikum Dresden / Christoph Reichelt „Beispielsweise haben wir während der Analyse langjähriger Behandlungsdaten festgestellt, dass Lithium auch einen gewissen Schutz vor Gedächtnisverlust und Demenz aufweist“, erzählt Bauer. „Im Laborversuch konnte ganz klar die neuroprotektive Wirkung von Lithium nachgewiesen werden.“ Der Experte weiß: „Wenn Patienten Lithium über zehn oder zwanzig Jahre einnehmen, dann sinkt auch die Demenzrate.“ In der wissenschaftlichen Literatur finden sich mehrere Arbeiten zum Thema. Forscher der Universität São Paulo unter Leitung von Orestes V. Forlenza nahmen 45 Patienten mit leichter kognitiver Beeinträchtigung in eine randomisierte kontrollierte Studie auf. Sie erhielten entweder Lithiumsalze bis zur Zielkonzentration von 0,25 bis 0,5 mmol/l im Serum oder Placebo. Nach zwölf Monaten bestimmte die Forschergruppe verschiedene Parameter bei allen Teilnehmern. Studienleiter Forlenza fand niedrigere Spiegel des Tau-Proteins (p-Tau) im Liqour von Probanden, die Lithium erhielten. Tau-Proteine werden als Biomarker für Morbus Alzheimer verwendet. Gleichzeitig schnitten diese Personen beim Kognitionstest ADAS-Cog-Test besser ab. Während Forlenza mit großen Mengen gearbeitet hat, wollte Andrade Nunes wissen, ob weitaus geringere Dosen ebenfalls einen wünschenswerten Effekt zeigen. Sie arbeitete mit Patienten, die bereits an Symptomen einer Alzheimer-Demenz litten. Neurologen hatten die Krankheit zuvor anhand geltender Leitlinien diagnostiziert. Erhielten Studienteilnehmer 300 µg Lithium pro Tag über 15 Monate hinweg, stabilisierte sich die Erkrankung.
Lars Vedel Kessing © ResearchGate Diese Vorarbeiten brachten Lars Vedel Kessing von der Universität Kopenhagen auf eine Idee. Der Lithiumgehalt im Trinkwasser Dänemarks schwankt durch unterschiedliche Gesteinsformationen im Boden vergleichsweise stark. In westlichen Regionen enthält das Grundwasser 0,6 µg/l, während im Osten des Landes Werte von bis zu 30,7 µg/l erreicht werden. Gleichzeitig nutzte Kessing die typischen Patientenregister skandinavischer Länder. Ihm lagen Daten zu 73.731 Patienten mit Demenz und 733.653 Kontrollen vor. Der Wissenschaftler zog Personen, die Wasser mit lediglich 2,0 bis 5,0 µg/l tranken, als Demenz-Vergleichsgruppe heran. Enthielt das Trinkwasser mehr als 15,0 µg/l, lag das relative Risiko (RR) an Demenz zu erkranken bei 0,83. Im Konzentrationsbereich von 10,1 bis 15,0 µg/l ermittelte Kessing ein RR von 0,98. Zwischen 5,1 und 10,0 µg/l lag das RR jedoch bei 1,22. Alle Unterschiede waren statistisch signifikant. Die Ergebnisse überraschen: Nur in bestimmten Konzentrationsbereichen fand der Wissenschaftler einen linearen Zusammenhang zwischen Dosis und Wirkung. Kessing kann das Phänomen derzeit nicht erklären. Auch die Frage, ob seine Ergebnisse klinisch relevant sind, bleibt in seiner Studie unbeantwortet.
John J. McGrath © University of Queensland Trotz dieser offenen Punkte denkt John J. McGrath von der University of Queensland im australischen St. Lucia über praktische Anwendungen nach. In einem Editorial spekuliert er: „Die Aussicht, dass eine relativ sichere, einfache und preiswerte Intervention, also die Optimierung der Lithium-Konzentrationen im Trinkwasser, dazu führen könnte, Demenzen zu vermeiden, ist verlockend.“ Dies sei angesichts weltweit steigender Patientenzahlen und fehlender Therapien besonders relevant. „Insofern kommt jeder vorbeugenden Maßnahme eine besondere Bedeutung zu“, so McGrath weiter. Er bringt auch weitere aus seiner Sicht wünschenswerte Effekte ins Gespräch. Vor mehr als 25 Jahren hatten Forscher schon von einer Assoziation höherer Lithium-Konzentrationne im Wasser mit niedrigeren Suizid- und Kriminalitätsraten gefunden. Mit unerwünschten Effekten befasst sich McGrath aber nicht.
Elisabetta Patorno © Brigham and Women's Hospital Lithium steht konzentrationsabhängig mit unterschiedlichen Risiken in Verbindung. Seit langer Zeit sind Nebenwirkungen wie Übelkeit, Durchfall, Tremor, Gewichtszunahme oder ein euthyreotes Struma bekannt. Bei therapeutischer Anwendung im ersten Trimenon wurden auch Assoziationen mit Herzfehlern gefunden, berichtet Elisabetta Patorno vom Brigham and Women’s Hospital, Harvard Medical School, Boston. Basis war eine Kohorte mit 1.325.563 Schwangeren. Von ihnen erhielten 663 Lithium. Die Prävalenz von Herzfehlern lag unter der Pharmakotherapie bei 2,41 pro 100 Geburten (Vergleich: 1,15 von 100 Kindern). Das relative Risiko war dosisabhängig, was als weiterer Beweis einer Assoziation zu werten ist. Patorno gibt hier 1,11 (600 mg oder weniger pro Tag), 1,60 (601 bis 900 mg) und 3,22 (mehr als 900 mg) an. Bei bevölkerungsweiter Gabe über das Trinkwasser wären auch geringfügig erhöhte Risiken von Bedeutung.
In Deutschland denkt niemand ernsthaft über die Anreicherung von Trinkwasser mit Lithium nach. Die Arbeit von Kessing und Kollegen liefert trotzdem Interessante Denkanstöße. Personen mit bekannten Demenz-Risikofaktoren könnten vielleicht von niedrig dosierten Lithiumsalzen profitieren, weit bevor sie an einer Demenz erkranken. Ob das funktioniert, lässt sich nur anhand randomisierter kontrollierter Studien sagen.