Forschungsprojekte mit Milliardenbudget wollen sowohl in den USA als auch in Europa die Arbeitsweise des menschlichen Gehirns aufklären und modellieren. Dabei geht es jenseits der Forschung auch um die Frage: Dürfen wir ein "optimiertes Denkorgan" schaffen?
Es war so etwas wie der offizielle Startschuss zu einem der bisher größten Forschungsprojekte der Europäischen Union. Am 7. Oktober versammelten sich im schweizerischen Lausanne Vertreter von mehr als 130 Organisationen, um über Zusammenarbeit und Strategie des "Human Brain Project" zu reden. Insgesamt 1,2 Milliarden Euro will die Union investieren, um das menschliche Gehirn zu entschlüsseln und anhand von Modellen Einblick in unser Denken zu gewinnen.
Müssen wir jetzt fürchten, dass innerhalb der nächsten Jahrzehnte Forscher in der Lage sein werden, unsere Gedanken zu entschlüsseln? Werden wir bald mit Medikamenten und elektrischen Sonden Erinnerungen auslöschen oder erzeugen können? Lässt sich dann die Persönlichkeit eines Menschen digital mit den Aktivitätsdaten seiner Gehirnnerven beschreiben? Das neue Wissen soll entsprechend den großen Zielen des Projekts nicht nur dazu dienen, mentale Störungen und psychische Leiden besser zu verstehen und zu behandeln, sondern beispielsweise auch dazu, neue Computersysteme zu entwickeln, deren Funktionsweise dem menschlichen Gehirn ähneln. In die Hoffnung der Forscher auf neue Erkenntnisse mischt sich auch Angst vor Missbrauch durch Militär oder Kommerz. Mit einem Programmschwerpunkt "Ethik und Gesellschaft", der immerhin drei Prozent des Etats ausmacht, wollen die Organisatoren diesen Bedenken Rechnung tragen. Verschiedene Ethikkomitees sollen die Auswirkungen neuer Forschungsergebnisse diskutieren und sicherstellen, dass auch die Forschungstätigkeit selber ethischen Ansprüchen genügt.
Fast gleichzeitig zum europäischen Projekt ist auch der amerikanische Gegenpart BRAIN (Brain Research through Advancing Innovative Neurotechnologies) gestartet, der das menschliche Gehirn in einer nie zuvor dagewesenen Auflösung kartieren will. Auch hier berät die Bioethik-Kommission des US-Präsidenten über die Folgen beim Vorstoß in die Tiefen des menschlichen Gehirns. Einer der drei Mitspieler der US-Regierung bei diesem Projekt ist allerdings die DARPA, Forschungsorganisation des amerikanischen Verteidigungsministeriums. Ihr geht es um Kriegsführung mit "Neurotechnik" und um Verarbeitung von physischen und psychischen Traumata im Soldatengehirn. Schon seit längerem ist bekannt, dass etwa Serotonin auch moralische Entscheidungen des Menschen beeinflusst. In einer Veröffentlichung in "PNAS" im Jahr 2010 zeigte Molly Crockett von der englischen Cambridge University, dass ein hoher Spiegel dieses Transmitters den Menschen davor zurückschrecken lässt, andere zu verletzen - körperlich oder finanziell. So etwas könnte bei Soldaten eher unerwünscht sein. Sehr interessiert ist die DARPA dagegen an Techniken, die psychotraumatische Erinnerungen an blutige Kämpfe bei Soldaten ausschalten. Nach den Ausführungen von William Casebeer bei einem kürzlichen Ethik-Treffen in Philadelphia ist die US-Verteidigung sehr daran interessiert, mit technischen Mitteln Erinnerungen bei Soldaten zurückzuholen, die an Gedächtnisverlust nach einer Gehirnverletzung leiden.
Dass es sich dabei um mehr als Wünsche für die ferne Zukunft handelt, zeigen Ergebnisse vom Juli dieses Jahres. Wissenschaftler vom Massachusetts Institute of Technology manipulierten Mäuse mit optogenetischen Mitteln derartig, dass sie sich bei passender Gelegenheit an Ereignisse erinnerten, die niemals stattgefunden hatten. Mit der "Erinnerung" an einen bestimmten Reiz lösten die Wissenschaftler bei den Vierbeinern eine traumatische Schreckreaktion aus. Andere Studien mit Propanolol deuten darauf hin, dass der Wirkstoff bei Soldaten mit posttraumatischen Stresssymptomen üble Erinnerungen löscht. Ein weiterer Aspekt tauchte bei der Diskussion im Zuge der Zusammenkunft der Ethikkommission in Philadelphia auf: David Chalmers, australischer Philosoph und kognitiver Neurowissenschaftler mit Professuren in Canberra und New York, beobachtet eine immer größere Präzision bei der Möglichkeit, Gedanken des Gehirns auszulesen, was etwa Koma-Patienten helfen kann, sich mit ihrer Umwelt zu verständigen. Was ist aber, wenn der Gehirnscanner auf Erinnerungen an einen ungesühnten Mord des Patienten stößt?
Eine ganz besondere Herausforderung stellt das Projekt des europäischen Gehirnprojekts dar, "neuromorphe" Computertechnologie weiterzuentwickeln: Rechenmaschinen, deren Funktion der des Gehirns ähnelt und die ihre Handlungsanweisungen dann auch an Roboter weitergeben könn(t)en. Wären Computer schließlich die besseren - oder schlechteren - Menschen? Werden Computer irgendwann einmal ein Selbstbewusstsein nach Art des menschlichen Gehirns entwickeln? Schon zu Beginn des auf viele Jahre angelegten Forschungsprogramms wollen sich die Verantwortlichen für das Projekt zumindest einmal Gedanken über diese Fragen machen. Daher soll sich beim "Human Brain Project" ein unabhängiges Ethik-Komitee mit diesen ethischen Aspekten befassen. Über Online-Foren werden auch Bürger der beteiligten Staaten mitdiskutieren können. Alle zwei Jahre soll es nach dem Willen der Planer eine Versammlung von Laien geben, die mit den Experten ihre Sorgen und Befürchtungen einer unkontrollierten Forschung bespricht.
Nicht selten sind diese Befürchtungen unbegründet. Bis ein Roboter mit menschlichen Emotionen und Fähigkeit zu Mitgefühl, aber auch Lüge und Hass entsteht, dürften noch einige Jahre vergehen. Andererseits ist etwa die funktionelle Magnetresonanz schon jetzt in der Lage, manche Entscheidungen im Gehirn vorherzusagen, noch bevor sie im Bewusstsein des Betroffenen gefallen ist. Auch als "Lügendetektor" taugt diese Art der Bildgebung des Gehirns und hat inzwischen auch Gerichtsurteile beeinflusst. Wird sich in Zukunft die Rechtsprechung immer mehr darauf verlassen, wie ein Gehirnscan den Angeklagten eingeschätzt hat? Unzurechnungsfähig oder voll verantwortlich für seine Tat? Eine andere Frage könnte sich stellen, wenn der Delinquent die Aussage verweigert. Kann man ihn dann in einen Kernspintomographen befördern, um seine Gedanken auszulesen? Dass mit der detaillierten Erforschung unseres Denkorgans auch ein Stück unserer Privatsphäre verloren geht, sollte allen klar sein. Wie funktioniert das Zusammenspiel von Milliarden Zellen unseres zentrales Nervensystems? Wenn es gelingt, das Ergebnis dieser Frage eher medizinischen als militärischen, mehr wissenschaftlichen als kommerziellen Zwecken zu widmen, wäre viel gewonnen.