Deutschlands bekanntestes Ärztenetz vollzieht den digitalen Umzug. Eine neue elektronische Patientenakte soll das erfolgreiche Netz jetzt auch digital noch stärker zusammenführen – ohne Gesundheitskarte.
Wenn Werner Witzenrath in der internistischen Hausarztpraxis, die er mit seiner Kollegin Ulrike Diener in dem Schwarzwald-Örtchen Gengenbach betreibt, die zentrale Netzakte des ambulanten Versorgungsverbunds aufrufen möchte, dann genügt jetzt ein kurzer Klick auf ein kleines Item in seinem Arztinformationssystem. Prompt öffnet sich eine Webapplikation, die die Verbindung zu dem Netzserver herstellt, der in der Zentrale des Gesunden Kinzigtals im badischen Haslach steht. Befunde, Arztbriefe, Laborwerte, was immer Kollegen aus anderen Praxen in die Netzakte eingestellt haben, Witzenrath kann es ansehen und bei Bedarf, als Fremdbefund markiert, in die eigene Dokumentation übernehmen.
Das „Gesunde Kinzigtal“ ist ein mit einem Capitation-Modell arbeitender Versorgungsverbund, der gemeinsam von der auf Netzmanagement spezialisierten OptiMedis AG mit Sitz in Hamburg und dem MQNK Ärztenetz des Kinzigtals getragen wird. Die gemeinsame Patientenakte ist Teil einer neuen Netzsoftware, die derzeit ausgerollt wird. Lange Jahre hatte man im Kinzigtal für die Mitgliederverwaltung auf eine Lösung von Medaso gesetzt und bei der Patientenakte die kartenbasierte On-Lab-Akte implementiert. „Auch diese Lösung hat funktioniert. Es war eine gute Akte, aber die Akzeptanz der Ärzte war letztlich zu gering. Außerdem war die Entwicklung von Behandlungspfaden aufwändig“, sagt Kinzigtal-IT-Experte Udo Kardel.
Nur 100 bis 200 Netzakten wurden von den Ärzten im Kinzigtal zuvor in sechs Jahren angelegt, bei mittlerweile über 9.000 Patienten, die in den IV-Vertrag mit der AOK Baden-Württemberg und die Sozialversicherung für Landwirtschaft, Forsten und Gartenbau (früher: LKK Baden-Württemberg) eingeschrieben sind. Das ist nicht viel. Seit im Sommer in den ersten Praxen die neue Software eingerichtet wurde, klingen die Zahlen anders. Über tausend Netzakten sind schon jetzt online. Einer der Gründe: Das Prozedere der Freischaltung einer Akte ist wesentlich weniger aufwändig. Und das liegt unter anderem daran, dass die neue Akte ohne eine eigene elektronische Gesundheitskarte auskommt. Die mussten die Patienten im Kinzigtal bisher zusätzlich zu ihrer Versichertenkarte mit sich herumtragen, wenn die Teilnahme an der Netz-EPA gewünscht war. Viele Patienten taten das gar nicht erst. Und auch vielen Ärzten war die wiederholte Steckerei der Karten zu umständlich. Ergebnis: Abstimmung mit den Füßen. Akte gescheitert.
Der zweite Grund, warum die neue Netzakte bei den Kinzigtaler Ärzten bessere Noten bekommt, ist die gute Integration in die IT-Systeme der Ärzte. Auch diese bessere Integration hat einen simplen Grund: Rund 80 Prozent der Praxen im Gesunden Kinzigtal nutzen CompuGroup-Systeme, viele davon TurboMed, so auch Werner Witzenrath. Und auch die neue Netzakte stammt jetzt von dem Koblenzer Unternehmen. Gemeinsam mit OptiMedis hat der IT-Konzern seine existierende Netzlösung, teilweise unter dem Namen Cordoba bekannt, in den letzten anderthalb Jahren runderneuert. Das Ergebnis ist eine Netzsoftware mit je nach Bedarf nutzbaren Funktionen für den Patientendatenaustausch („CGM NET Communication“), für die Statistik („CGM NET Report“), für Behandlungspfade („CGM NET Pathways“) und für die Netzverwaltung („CGM NET Management“). CGM NET ist in erster Linie eine CompuGroup-Netzsoftware mit tiefer Integration in CompuGroup Systeme. Allerdings hat man sich schon viel Mühe gegeben, auch externe Systeme einzubinden. Und man ist selbstbewusst genug, das vorzuführen. Wer sich beispielsweise in der Praxis Brigitte und Wolfgang Stundner in Zell die Anbindung der Netzakte an das System Mediamed S3 live ansieht, der glaubt gerne, dass dieser Teil des Projekts für die IT-Experten Kärrnerarbeit war. Die Lösung, eine Schnittstellensoftware namens Doc Access, kann sich sehen lassen, auch wenn das Ergebnis von einer tiefen Integration, wie sie eigene Systeme erlauben, ein Stück entfernt ist. Es ist, wie es ist, und das seit zehn Jahren und länger: An dem von allen Praxis-IT-Herstellern in Deutschland und nicht zuletzt der Kassenärztlichen Bundesvereinigung gemeinsam zu verantwortenden Grundproblem der fehlenden Schnittstelle für einen sauberen ambulanten Datenaustausch kann auch die neue Software im Kinzigtal nichts ändern. Auch Doc Access / CGM NET nutzt bei Fremdsystemen die Geräteschnittstelle GDT als Krücke, mit allen damit verbundenen Kompromissen. Dass die CompuGroup sich jetzt dieser Schnittstellenlösung bedient, die sie in anderen Kontexten einst mit Macht bekämpft hat, entbehrt nicht einer gewissen Ironie. Es ist aber auch irgendwo sympathisch: Es geht allen so, in allen denkbaren Herstellerkonstellationen.
Wie intensiv die elektronische Patientenakte im Alltag genutzt wird, werden die nächsten Monate zeigen. Es wäre aber unvollständig, die Kinzigtaler Netzsoftware allein auf die EPA zu reduzieren. Sie ist, und das durfte man bei einer Kooperation mit OptiMedis schon erwarten, auch eine leistungsfähige Software für die integrierte Versorgung. Diese IV-Module, wenn man sie einmal so nennen möchte, laufen nicht irgendwo nebenher, wo sie dann wieder separat aufgerufen werden müssten. Sie sind vielmehr genauso tief in den Arztarbeitsplatz eingebunden wie die Akte. Das durch das Gesunde Kinzigtal zustande gekommene „Special“ ist ohne Zweifel die Integration von derzeit acht Behandlungspfaden, die sich im Schwarzwald teils seit Jahren bewährt haben und die via CGM NET nun auch anderen Netzen zur Verfügung stehen. Darunter sind Pfade für die Osteoporose, für Depression und für Rauchentwöhnung. Diese Behandlungspfade sind für das Netzmanagement auswertbar und entsprechend ein zentraler Bestandteil der Verhandlungen mit den Krankenkassen, die im Kinzigtal gerade wieder Fahrt aufnehmen. So konnte das „Gesunde Kinzigtal“ beispielsweise bei der Osteoporose zeigen, dass durch die Einschreibung in den Behandlungspfad nicht nur erwartungsgemäß der Anteil der adäquat therapierten Patienten steigt, sondern auch die Frakturquoten und sogar die Sterblichkeit sinken.