Medizinische Rasterfahndung: 2.000 Pränataltests, die nach Trisomien suchen, werden weltweit jeden Tag durchgeführt - Tendenz steigend. Nicht selten ziehen Testergebnisse Schwangerschaftsabbrüche nach sich. Darf Leben abseits der Norm einfach aussortiert werden?
"Der Traum vom perfekten Kind" war der Titel einer ARD-Dokumentation von Patrick Hünerfeld, die am 21. Oktober ausgestrahlt wurde. Die Pränataldiagnostik boome, und das nicht erst, seit der neue Bluttest auf dem Markt sei (DocCheck berichtete), den ein Jahr nach seiner Einführung bereits 6.000 Frauen in Deutschland genutzt haben, um ihr ungeborenes Kind auf genetische Defekte prüfen zu lassen.
Standarduntersuchungen sind bis heute Ultraschalluntersuchungen, bei denen das Ungeborene unter anderem auf Fehlbildungen untersucht wird. Beim Ersttrimesterscreening werden einige Blutwerte bestimmt und die Dicke der kindlichen Nackenfalte gemessen. Beide Tests können Hinweise auf das Down-Syndrom geben. Als Testergebnis erhält die Schwangere jedoch nur eine Wahrscheinlichkeit, keine gesicherte Diagnose. Sichere Genuntersuchungen am Ungeborenen waren bisher immer mit einem riskanten Eingriff verbunden – einer Fruchtwasseruntersuchung. Der neue Test hingegen gefährdet das Kind im Mutterleib nicht: Das kindliche Erbgut kann damit direkt aus dem Blut der Mutter untersucht werden. Prof. Sabine Rudnik-Schöneborn von der deutschen Gesellschaft für Humangenetik zeigte sich im Film begeistert über den Fortschritt. Für sie hat damit ein neues Zeitalter in der Geschichte der vorgeburtlichen Diagnostik begonnen.
"Praenatest" heißt der seit August 2012 angebotene Test. Er kostet inzwischen rund 800 Euro, zusammen mit einer Beratung um die 1.000 Euro, die vom Patienten selbst bezahlt werden müssen. Der Test erfasst die Trisomien 13, 18, 21. Auch Abweichungen bei der Anzahl der Geschlechtschromosomen (X- und Y-Chromosomen) sind mit dieser Methode grundsätzlich nachweisbar. Die günstigere amerikanische Version wird unter dem Namen "Harmony" vertrieben und bereits für knapp die Hälfte angeboten. Harmony kann ab der 11. Schwangerschaftswoche durchgeführt werden, der Praenatest bereits ab der 9. Schwangerschaftswoche, also noch vor dem Ersttrimesterscreening. Ein Jahr nach der Einführung zog der deutsche Hersteller Lifecodexx Bilanz: 6.000 Frauen hatten den Test durchführen lassen, davon waren 98 % der Proben ohne Befund. Für Lifecodexx ein Erfolg. Man habe den Frauen eine Sorge abgenommen, hieß es in einer Mitteilung des Unternehmens.
Der Test ziele vor allem auf die Trisomie 21, weil das wirtschaftlich rentabel sei. Die schlecht bezahlte Beratung bliebe hingegen an den Ärzten hängen, mahnte die ARD-Reportage an. Da eine Therapie des Down-Syndroms bis heute nicht möglich sei, gehe es bei dem Test vielmehr um die Frage eines Schwangerschaftsabbruches - eine Entscheidung, die für werdende Eltern einem Alptraum gleicht. Trotz des frühen Untersuchungszeitpunktes findet diese meist doch zu einem späteren Zeitpunkt in der Schwangerschaft statt. Denn der Hersteller räumt eine Fehlerquote von 0,1 % ein und empfiehlt Familien mit einem positiven Testergebnis, eine Fruchtwasseruntersuchung durchführen zu lassen.
Der Praenatest funktioniert folgendermaßen: Über die Nabelschnur fließt das Blut des Embryos zur Plazenta. Dort wird es mit Sauerstoff und Nährstoffen versorgt, die aus dem mütterlichen Blut stammen. Bei diesem Austausch gelangen ständig Zellen des Kindes in den Blutkreislauf der Mutter. Zerfallen diese Zellen, schwimmt das kindliche Erbgut frei im Blut der Mutter. Diese Bruchstücke können mit dem Praenatest analysiert und sortiert werden. Dabei wird jedes Bruchstück dem Chromosom zugeordnet, von dem es stammt. Findet sich zu viel Material von einem Chromosom, hat das Kind dieses Chromosom wahrscheinlich einmal mehr als üblich. Dann liegt eine Trisomie vor. Eine Garantie für ein gesundes Kind ist der Praenatest aber bei weitem nicht: Von 100 Kindern, die in Deutschland geboren werden, haben vier eine wie auch immer geartete, erbliche Erkrankung. Von diesen können durch pränatale Untersuchungen aber nur ein bis zwei entdeckt werden.
Die Meinungen zum Praenatest sind gespalten: "Ich denke, das gute Recht der Eltern ist es, rundum gut informiert zu sein, was in der Schwangerschaft auf sie zukommt. Wenn sie sich nach guter Information entscheiden, diese Schwangerschaft nicht weiter fortführen zu wollen, weil ihr eigenes Leben dadurch so verändert wird, dass es nicht mehr lebbar ist, dann, denke ich, haben die Eltern auch ein Recht sich für einen Schwangerschaftsabbruch zu entscheiden“, äußerte sich Dr. Regina Rasenack von Pränatalmedizin im Uniklinikum Freiburg in der ARD-Reportage.
Bei einer derart schwierigen Entscheidung sei eine gute und frühzeitige Beratung wichtig. Prof. Christina Woopen ist Medizinethikerin an der Uniklinik Köln. Sie ist Ärztin, Vorsitzende des Deutschen Ethikrates und berät werdende Eltern, wenn es um die Frage eines Schwangerschaftsabbruches geht. Sie erläuterte die Ziele einer medizinethischen Beratung: "Im Kern geht es darum, das Leben des Ungeborenen, aber auch das Leben der Frau zu schützen. Leben nicht nur im biologischen Sinne, sondern auch die persönliche Integrität und Freiheit der Frau, ihr persönliches Leben zu führen." Prof. Woopens Studien zeigten allerdings, dass werdende Eltern oft nicht optimal beraten werden. Das ließen auch die Kommentare der befragten Ärzte in den Studienunterlagen erkennen. "Vielen der Patienten ist nicht klar, was Pränataldiagnostik bedeutet", so die Medizinethikerin. Das Interesse der Eltern läge darin zu erfahren, was ein Leben mit einem Kind, das eine bestimmte Erkrankung hat, für die Familie bedeuten würde. "Eltern fragen sich: Wird das Kind selbständig leben können, wird es zur Schule gehen können, wird es leiden müssen, wird es viele Operationen haben müssen, wird es Schmerzen haben? Das sind die Dinge, die die Eltern interessieren." Diesbezüglich müsse die Beratung dringend erweitert werden. "Die Leute wollen ein gesundes Kind, kriegen ein Paket und zahlen dafür. Und damit ist im Grunde der Gedankengang abgeschlossen. Aber die Wirklichkeit sieht natürlich anders aus. Wenn ich Geld bezahle, ist das Kind nicht automatisch gesund", erklärte Prof. Klaus Zerres von der Deutschen Gesellschaft für Humangenetik. "Alles, was dazwischen liegt, bedarf einer intensiven Aufklärung. Das fängt damit an: Was heißt denn eigentlich 'Down Syndrom'? Viele wissen das gar nicht, was das bedeutet."
Im Film kommen auch Menschen mit Down-Syndrom zu Wort. Dass Menschen mit einem normalen Chromosomensatz von einer Krankheit sprechen, unter der die Betroffenen leiden, können sie nicht verstehen. "Wir leiden gar nicht unter dem Down-Syndrom. Wir sind nur anders normal", geben sie zu verstehen. "Wir können etwas, wir arbeiten, wir gehören auch zur Gesellschaft, trotz Behinderung", so Juliana Götze, Schauspielerin am Theater Rambazamba in Berlin. Den neuen Bluttest empfinden viele Betroffene als Angriff auf ihr Lebensrecht. Dr. Gisela Höhne vom Theater Rambazamba arbeitet mit Schauspielern mit Down-Syndrom und hat selbst einen Sohn mit Trisomie 21. "Mich macht das enorm wütend und traurig und wir kämpfen mit allen Mitteln. Ich sage oft: Kommt her und guckt sie euch an. Denn letztlich ist es ein Verbrechen, eine Art Menschen, die besonders sind durch die Trisomie, auszusortieren. Ich finde es unerhört und das gab es in der ganzen Menschheitsgeschichte nicht, dass einfach eine Art Mensch, wenn man so will, ausgerottet wurde.“ Auch sie betont, wie wichtig die Aufklärung über eine Trisomie sei. Wenn sie vor der Geburt von der Behinderung ihres Sohnes gewusst hätte, hätte sie die Schwangerschaft wohl abgebrochen, räumt sie ein. "Ich wusste einfach zu wenig über diese Krankheit. Mit meinem heutigen Wissen würde ich das Kind wieder bekommen", so Dr. Höhne.
Werden künftig wirklich kaum noch Kinder mit Down-Syndrom geboren werden? Vieles deute darauf hin. "Wenn der Test flächendeckend jeder Schwangeren angeboten werden würde oder sogar von den Krankenkassen bezahlt werden würde, entwickelt sich die Medizin zu einer Art Rasterfahndung auf bestimmte Behinderungsformen. Das hat es in der Medizin bisher so noch nicht gegeben, dass Ärzte mit Hilfe moderner technischer Methoden versuchen, die Geburt von Menschen mit einer bestimmten genetischen Eigenschaft flächendeckend zu verhindern", so Prof. Wolfram Henn, Humangenetiker an der Uniklinik Homburg/Saar. Mit dem neuen Bluttest können erstmals alle auffälligen Kinder gefunden werden. Ist das gesellschaftlich gewünscht? Sollte die Krankenkasse das bezahlen? Denn einmal entdeckt, werden bei uns laut Recherchen der ARD über 90 % der Kinder mit Down-Syndrom abgetrieben.
In Wahrheit könne der neue Bluttest nur sehr wenig gegen eine Behinderung beim Kind ausrichten, heißt es im Film. Denn auch durch Geburtskomplikationen könnten schwere Behinderungen entstehen. Ein Risiko, das sich durch keine vorgeburtliche Untersuchung beherrschen ließe. Knapp neun Prozent der Menschen gelten in Deutschland als schwerbehindert. Das sind rund sieben Millionen Menschen. Von hundert Schwerbehinderten kamen lediglich vier mit ihrer Behinderung zur Welt. Die meisten Behinderungen werden also im Laufe des Lebens erworben.
In ganz Deutschland werden pro Woche etwa 120 pränatale Screenings auf Trisomien über das mütterliche Blut gemacht - weltweit nutzen ihn 2.000 Frauen täglich. Heute umfasst er lediglich drei Trisomien. Doch schon jetzt ist es technisch möglich, mit einer einfachen Blutprobe der Mutter bei einem ungeborenen Kind alle Chromosomen, das gesamte Erbgut, zu untersuchen. Im Moment sei das Verfahren noch recht aufwendig, aber in wenigen Jahren möglicherweise schon eine Routineanwendung. Mit welchen Auswirkungen? Bei vielen Auffälligkeiten im Erbgut wird nicht klar sein, ob sie Auswirkungen auf die Gesundheit des Kindes haben werden. Doch was ist mit dem Brustkrebsgen? Mit einer Veranlagung für Diabetes? Alzheimer? Sind das Gründe für einen Schwangerschaftsabbruch? Untersuchungen auf Krankheiten, die erst spät im Leben auftreten, wie etwa das Huntington-Syndrom, sind bei uns verboten. Werden sie trotzdem angeboten werden? Die schöne neue Welt habe, so die Reportagenautoren, von vielen unbemerkt längst begonnen.