Umweltmediziner sind in Deutschland selten. Ihre Leistungen werden nicht von den Kassen bezahlt. Dabei ist der Zusammenhang zwischen Krankheit und Lärm, Asbest oder Passivrauch längst bewiesen. Langzeitfolgen chronischer Lärmbelastung sind etwa Herzinfarkte.
Jonas Mattner* schreckt aus dem Schlaf auf. Die Kirchenglocken nebenan dröhnen und treiben ihn aus dem Bett. „Meistens geht es schon früh los“, sagt der 59-Jährige, „an der Ecke brettern die Polizeiautos über die Hauptstraße. Neben dem Haus an der Tankstelle kommt es regelmäßig zu Staus und Hupkonzerten, und nachts halten Krankenwagen vor dem Altersheim gegenüber.“ Mattner schläft schlecht in der Nacht und fühlt sich tagsüber gerädert, er leidet seit Jahren an Asthma und Neurodermitis. Vor einem halben Jahr dann der Schock: Angina Pectoris, sechs Stunden Operation, eine neue Herzklappe und ein Bypass.
„Lärm ist für uns durchaus eine Größe“, sagt Frank Bartram aus Weißenburg in Bayern. In seiner Praxis für kurative und präventive Umweltmedizin behandelt er Menschen, die an Umwelteinflüssen erkranken. Man weiß zum Beispiel, sagt Bartram, dass in Großstädten, bedingt durch den Lärm, deutlich mehr Patienten in einer vergleichbaren Altersgruppe Herz-Kreislauf-Erkrankungen haben, als auf dem Land. Tatsächlich belegt etwa die Studie „Chronischer Lärm als Risikofaktor für den Myokardinfarkt“, dass Männer, die einen Herzinfarkt hatten, häufig an lauten Straßen lebten, insbesondere dann, wenn dies über einen Zeitraum von mehr als zehn Jahren gewesen war. Interessant in diesem Zusammenhang ist das Forschungsprojekt des Umweltbundesamts „Epidemiologische Untersuchungen zum Einfluss von Lärmstress auf das Immunsystem und die Entstehung von Arteriosklerose.” Untersucht wurden die Daten von mehr als 1.700 vorwiegend älteren Menschen in Berlin. Es konnte ein Zusammenhang zwischen der Belastung durch Verkehrsgeräusche in der Nacht und negativen Reaktionen des Stoffwechsels und des Immunsystems bewiesen werden. „Lärm ist ein Stressfaktor“, heißt es beim Umweltbundesamt: „Er aktiviert das autonome Nervensystem und das hormonelle System. Als Folge kommt es zu Veränderungen bei Blutdruck, Herzfrequenz und anderen Kreislauffaktoren. Der Körper schüttet vermehrt Stresshormone aus, die ihrerseits in Stoffwechselvorgänge des Körpers eingreifen.“
Auch der Schlaf wird durch Lärm massiv gestört, zumal wir in der Nacht Geräusche lauter wahrnehmen als am Tag. Die Folgen: Betroffene wachen nachts öfter auf, sind tagsüber erschöpft, der Körper scheidet Stresshormone aus. So zeigte eine Studie aus der Umgebung des Flughafens Köln/Bonn, dass die Zahl der Medikamentenverschreibungen dort steige, wo Menschen bei nächtlichem Fluglärm schlafen müssen. Eine andere, europaweit durchgeführte Untersuchung belegte eine Häufung der Fälle von Bluthochdruck in Gegenden, wo Straßenverkehrs- und Fluglärm besonders ausgeprägt waren.
Die Frage ist nicht mehr, ob Lärm krank macht, sondern wie sehr: „Lärm ist eine Art Turbolader für viele anderen Dinge und macht sie schlimmer“, sagt Bartram. Warum das Problem, wie viele andere schädigende Faktoren der Umwelt, so wenig Beachtung finden, versteht er nicht. Die Fachrichtung ist nicht neu, und gilt bis heute eher als Stiefkind der Medizin. Wünscht sich eine stärkere Lobby für die Umweltmedizin: Umweltarzt Frank Bartram aus Weißenburg. Als interdisziplinäres Fachgebiet untersucht es die Auswirkungen der Umwelt und deren Faktoren auf die Gesundheit. 3.031 Ärzte führen nach jüngsten Zahlen Ende 2016 die Zusatzbezeichnung Umweltmedizin, so die Bundesregierung auf eine Kleine Anfrage von Bündnis 90/Die Grünen. Demnach nehmen 1.373 von ihnen an der vertragsärztlichen Versorgung teil, 476 sind als Hausärzte tätig. Die Qualifikation zum Umweltmediziner erfolgt über eine Zusatzweiterbildung. Sie war in den Jahren 1991 und 2000 stark gestiegen und ist seit 2003 rückläufig, denn sie ist seitdem in der Musterweiterbildungsordnung der Bundesärztekammer nicht mehr enthalten. Auf dem diesjährigen 120. Ärztetag im Mai wurde im Rahmen der Novellierung der Weiterbildungsordnung beschlossen, „Hygiene und Umweltmedizin“ zu erhalten und entsprechende Zusatzausbildungen in die Wege zu leiten.
„Höchste Zeit“, findet Bartram: „Von unseren Patienten höre ich, dass es so gut wie keine praktizierenden Umweltmediziner gibt. Das ist auch klar, denn bis heute sind keine Abrechnungsmodalitäten über die Krankenkassen möglich.“ In der Umweltmedizin müsse man eine aufwändige Anamnese und Befund-Besprechungen durchführen, so Bartram, dies sei über die Kassen nicht abzurechnen. „Allein für eine Anamnese brauchen wir nach unseren Praxisleitlinien mindestens eine Stunde. „Anschließend käme dann die Diagnostik. Wir sagen unseren Patienten beim Erstkontakt, dass wir die persönliche Beratung auch persönlich liquidieren.“
Umweltmedizin sei leider vielerorts keine Kassenleistung und werde oftmals über IGEL-Leistungen abgerechnet. Nur im Rahmen der poliklinischen Versorgung werden diese Leistungen an einigen Universitäts-Polikliniken angeboten, schreibt Dennis Nowak, Direktor des Instituts und der Poliklinik für Arbeits-, Sozial- und Umweltmedizin an der Uni München, auf Anfrage von DocCheck. Dabei gebe es durchaus Bedarf. Die Relevanz ergebe sich aus der hohen Zahl der Exponierten, meint der. „Häufige Fragestellungen drehen sich um Schimmelbelastung, allergologische Themen, Asbest in Innenräumen und Passivrauch. Haushaltschemikalien, Amalgam und Elektrosmog fallen ebenfalls in den Bereich der Umweltmedizin.“ Auch multiple Chemikalienüberempfindlichkeit sei ein Thema, neuerdings auch Fipronil, so der Experte. Dazu kämen Sorgen über naturwissenschaftlich nicht nachgewiesene Phänomene, sodass es oft einen Bezug zu somatoformen Störungen gebe. „Wissenschaftliche Grundlagen sind die Toxikologie und die Epidemiologie“, schreibt Nowak, „daher die inhaltliche Nähe zur Arbeitsmedizin.“ Dennis Nowak erforscht die Auswirkungen von Umwelteinflüssen auf die Gesundheit Je nachdem, wie breit man den Begriff „Umwelt“ definiere, spiele die Wechselwirkung zwischen Individuum und Umwelt bei den allermeisten Erkrankungen eine Rolle, so Nowak: „Beim Zusammenhang zwischen Immunabwehr und Infektionen beispielsweise trifft der von seiner individuellen Umwelt geprägte Organismus auf eine Bedrohung aus seiner Umgebung und erkrankt im ungünstigeren Fall daran. Auch sind viele Befindlichkeitsstörungen, Beschwerden, Symptome und Krankheiten ganz oder teilweise umweltbedingt, von vorübergehenden Kopfschmerzen nach dem Besuch eines verrauchten Lokals über eine toxische Kontaktdermatitis nach dem Anprobieren chemisch behandelter Textilien.“ Im Einzelfall könne es, angesichts der Vielzahl von Einflüssen und der stetigen Veränderung der Umweltbedingungen schwierig sein, klare Ursachen zu identifizieren, schreibt der Experte: „Es besteht daher die Gefahr, dass ein Zusammenhang zwischen Umweltfaktoren und Erkrankungen zunächst abgelehnt, später aber erkannt wird – das gesundheitsschädliche Potenzial von Asbest wurde lange unterschätzt, bei Passivrauch wird es teilweise noch immer geleugnet.“
Meistens seien bei Umwelterkrankungen mehrere Fakten gleichzeitig vorhanden, die dann irgendwo an einem Schwachpunkt des Patienten zur Symptomatik führten, sagt Bartram. „Wir gehen von einem sehr robusten Modell des Menschen aus, der eine ganze Menge kompensieren kann. Bis es soweit kommt, dass Symptome entstehen, muss über lange Zeit sehr viel passiert sein und unsere leistungsfähigen, robust arbeitenden Systeme wie die Entgiftung oder das Immunsystem eine wie auch immer geartete Belastung durch Umweltfaktoren nicht mehr kompensieren können. Wir sprechen dann von einem Toleranzverlust des Immunsystems, den man auch messen kann.“ Die Symptome bei einer Umwelterkrankung seien meist unspezifisch, so der Mediziner, und jedes unspezifische Symptom könne X verschiedene Ursachen haben. „Die meisten Symptome von Umwelt-Patienten sind körperlicher und auch geistiger Leistungsmangel. Das wird natürlich irgendwann auffällig“, sagt Bartram. „Deswegen ist bei uns auch die Ausschluss-Diagnostik das Wichtigste und steht allen anderen Schritten bei der Umwelt-Diagnostik voran.“ Erst wenn diese erfolgt sei und es ausgeschlossen wurde, dass andere Ursachen verantwortlich für die Symptome seien, zum Beispiel ein reaktiviertes Virus aus der Jugendzeit, dann würde nach Umwelteinflüssen gesucht, die das Immunsystem belasteten.
„Haben wir die Quelle gefunden, etwa bestimmte Pilze oder Zahnersatz, ist natürlich klar, dass wir keine Behandlung im klassischen Sinn empfehlen können“, so Bartram. „Es gibt keine Medikamente, die besser sind als unsere eigenen Systeme. Wir können sie nur unterstützen, etwa, indem wir ausreichend viel trinken oder durch die Aktivierung des Lymphsystem, dass auch zur Entsorgung von Schadstoffen dient, durch mäßige und regelmäßige Bewegung. Diese Maßnahmen helfen schon manchen Menschen.“ Meistens gebe es aber nur eine Lösung: „Wir sprechen von Expositionsvermeidung oder -verminderung, und zwar genau der Substanzen, die nachweislich zu dieser Erkrankung führen.“ In Mattners Fall und dem vieler anderer Menschen, die an Orten mit hoher Lärmbelastung leben, hieße dies zum Beispiel, schalldichte Fenster einzubauen, mit Ohrstöpseln zu schlafen, Vorhänge und Teppiche auszulegen – oder in eine ruhigere Wohnung zu ziehen. *Name von der Redaktion geändert