Zahnärzte sehen mehr als Karies und Parodontitis. Systemische Grunderkrankungen manifestieren sich oft im Mund – weit bevor Patienten über Symptome klagen. Es lohnt sich, beim geringsten Zweifel Kollegen anderer Fachbereiche einzubeziehen.
Nicht nur Ernährungssünden und schlechte Putzgewohnheiten schädigen unser Gebiss. Fallen bei der Untersuchung starke Korrosionen auf, leiden Patienten womöglich an einer unentdeckten gastroösophagealen Refluxkrankheit (gastroesophageal reflux disease, GERD). Entsprechende Beschwerden lassen sich auf eine gestörte Peristaltik der Speiseröhre oder eine exorbitant hohe Produktion von Magensäure zurückführen. Alternativ funktioniert der Ösophagussphinkter zwischen Speiseröhre und Magen nicht mehr richtig. Im Mundraum kommt es durch Salzsäure zu Erosionen, für die es auf den ersten Blick keine schlüssige Erklärung gibt. Schäden am Zahnschmelz, am Dentin und am Wurzelzement sind mögliche Folgen. Darüber hinaus werden Speicheldrüsen ebenfalls in Mitleidenschaft gezogen. Ähnliche Symptome treten bei Bulimie auf, hier sind Frauen deutlich öfter als Männer betroffen. Gelingt es, die jeweilige Grunderkrankung zu therapieren, nehmen Erosionen auch ein Ende.
Patienten suchen ihren Zahnarzt nicht nur wegen erosiver Schäden, sondern wegen Zahnverfärbungen auf. Dann ist Detektivarbeit gefragt: Zahlreiche Pharmaka, allen voran Amoxicillin/ Clavulansäure, Bismutsalze, Cefaclor, Eisenpräparate, Erythromycin, Metronidazol, Phenoxymethylpenicillin, Tetracycline sowie Trimethoprim/ Sulfamethoxazol verfärben Zähne. Je früher ein Pharmakon während der Zahnentwicklung in das Gewebe eingedrungen ist, desto intensiver ist die Verfärbung und desto länger wird es dauern, bis Verfärbungen wieder verschwinden. Erhalten Patienten ein Antibiotikum über längere Zeit, verändert sich auch die Mundflora, und sulfidbildende Bakterien machen sich breit – inklusive Trübung der Zahnsubstanz. Müssen Patienten entsprechende Pharmaka nicht mehr einnehmen, normalisiert sich ihre Zahnfarbe langsam. Zahnärzte können dies durch professionelle Aufhellungen beschleunigen. Während diese Patienten bereits in medizinischer Behandlung sind und mit Folgen diverser Arzneistoffe zu kämpfen haben, finden Zahnärzte nicht selten Symptome, die erst von Kollegen abgeklärt werden sollten. Ein Beispiel: Rund 40 Prozent der 55 bis 74-Jährigen haben mehr oder minder ausgeprägte Störungen ihres Blutzucker-Stoffwechsels – aber nur jeder vierte weiß davon. Auffällige Wundheilungsstörungen nach Zahnbehandlungen können wichtige Hinweise geben. Darüber hinaus sind Mundwinkelrhagaden zu sehen. Bei ausgeprägtem Diabetes mellitus kommen Zahnfleischabszesse, Gingivitiden und Parodontitiden mit hinzu. Nach Normalisierung der Stoffwechsellage und damit verbundener Behebung der Durchblutungsstörungen im Zahnfleisch führen zahnmedizinische Behandlungen auch zum Erfolg.
Falls Implantate erforderlich werden, stellen Zahnärzte bei Voruntersuchungen nicht selten fest, dass ältere Menschen an Osteoporose leiden. Der Bundesverband der implantologisch tätigen Zahnärzte in Europa (BDIZ EDI) rät allen Kollegen deshalb, ein genaues Risikoprofil zu erstellen, um Komplikationen zu vermeiden. Sollten Patienten bereits wegen Osteoporose in Behandlung sein, erhalten sie oft Bisphosphonate. Entsprechende Pharmaka hemmen die intraossäre Angiogenese im Kieferknochen und verlangsamen wichtige Heilungsprozesse. Implantate wachsen nicht richtig ein, und an sich harmlose Zahnextraktionen ziehen in seltenen Fällen Kieferknochennekrosen nach sich. Hochdosierte Bisphosphonate, wie sie bei Knochentumoren eingesetzt werden, führen bei jedem zehnten Patienten zu einer Nekrose.
Der Kiefer liefert nicht nur Hinweise auf Osteoporose. Zahnärzte finden früher als Gastroenterologen Hinweise auf eine familiäre adenomatöse Polyposis (FAP). Bei dieser autosomal-dominant vererbten Krankheit bilden sich Polypen im Dickdarm. Bis zum 40. Lebensjahr entsteht daraus mit fast 100-prozentiger Wahrscheinlichkeit Darmkrebs. Tritt eine FAP zusammen mit Osteomen oder benignen Hauttumoren auf, sprechen Ärzte vom Gardner-Syndrom. Kleine Osteome lassen sich im Orthopantomogramm bei bis zu 80 Prozent aller Betroffenen nachweisen. Weitere Anhaltspunkte sind verlagerte Zähne (23,1 Prozent), Hyperdontien (21,2 Prozent) sowie komplexe Odontome (11,5 Prozent). Finden Zahnärzte diese Verdachtsmomente, sollten sie Patienten zum Gastroenterologen schicken. Je früher eine chirurgische Intervention erfolgt, desto bessere Chancen haben FAP-Patienten. Virale Infekte hinterlassen ebenfalls verräterische Spuren. Fallen bei der Untersuchung weiße, streifenförmige Veränderungen am seitlichen Rand der Zunge auf, handelt es sich um eine orale Haarleukoplakie. Patienten fühlen sich subjektiv nicht krank, haben sich aber möglicherweise mit HI- oder seltener mit Epstein-Barr-Viren infiziert. Bei HIV verschwinden die Läsionen im Mund unter einer hochaktiven antiretroviralen Therapie (HAART) von selbst. Betroffene klagen zusätzlich über Candidosen im Mund-Rachen-Bereich. Außer dem viralen Infekt kommen als denkbare Ursachen solide Tumoren, Leukämien, Lymphome oder Stoffwechselerkrankungen wie Diabetes mellitus infrage. Darüber hinaus führen Pharmakotherapien mit Antibiotika, Glukokortikoiden, Immunsuppressiva oder Zytostatika zu einer Candidose. Zur Sanierung werden Mediziner primär die Grunderkrankung angehen. Im Bereich von Mund und Rachen haben sich Antimykotika wie Amphotericin B, Miconazol oder Nystatin bewährt – ein weiterer Fall für die enge Zusammenarbeit von Ärzten und Zahnärzten. Viele Therapien enden eben nicht auf dem Behandlungsstuhl.