Die EBM-Änderung zu einer möglichen Abrechnung von Genexpressionstests bei Brustkrebs sorgt für Gesprächsstoff. Der Vorwurf: Statt einen Präzedenzfall zu schaffen, werden lieber mehr als 10.000 Chemotherapien pro Jahr unnötig appliziert.
Es war Zufall, dass beides zeitlich zusammen fiel, aber was für ein Zufall. Am 1. Oktober trat im deutschen Gesundheitswesen eine Änderung des Einheitlichen Bewertungsmaßstabs (EBM) in Kraft. Dabei wurden die Leistungsbeschreibungen der drei Gebührenordnungspositionen 11320 bis 11322 zur Humangenetik vom Bewertungsausschuss der Kassenärzte und Krankenkassen präzisiert. Gynäkologen und Pathologen werfen der Selbstverwaltung jetzt vor, dass die EBM-Änderung es unmöglich mache, Genexpressionstest für die Prognoseabschätzung bei Brustkrebs wie den Oncotype DX oder den EndoPredict regulär abzurechnen. Nur wenige Tage vorher ging das britische National Institute for Health and Care Excellence (NICE) genau den umgekehrten Weg: Es kündigte an, mit dem Oncotype DX erstmals einen Genexpressionstest beim Brustkrebs regulär zu erstatten. Schiebt also das wohlhabendste Gesundheitswesen Europas bei einer innovativen und zudem sehr patientinnenfreundlichen Diagnosemethode den Riegel vor, während eines der knauserigsten Systeme die Tür weit öffnet?
Um die Bedeutung dieser beiden Entscheidungen richtig würdigen zu können, ist ein kleiner Ausflug in Richtung Brustkrebs und Brustkrebsprognose nötig. Frauen mit hormonrezeptorpositiven (ER+), HER2-negativen (HER2-) und lymphknotennegativen Brustkrebs erhalten heute generell eine adjuvante Hormontherapie. Zusätzlich kann eine adjuvante Chemotherapie appliziert werden. Sie senkt das Rezidivrisiko weiter, hat aber Nebenwirkungen. Über die Notwendigkeit einer Chemotherapie entschieden wurde bisher anhand von traditionellen onkologischen Risikofaktoren. „Damit können wir etwa ein Drittel bis die Hälfte der Patientinnen eindeutig der Hoch- oder Niedrigrisikogruppe zuordnen“, betont PD. Dr. Marcus Schmidt, Leiter Konservative und Translationale Gynäkologische Onkologie an der Universitätsmedizin Mainz. Bei diesen Frauen ist die Sache klar: Bei hohem Risiko wird eine Chemo empfohlen, bei niedrigem davon abgeraten. Nur: Rund die Hälfte bis zwei Drittel der Patientinnen lassen sich mit traditionellen Risikofaktoren nicht eindeutig klassifizieren. „Bei diesen Frauen mit intermediärem Risiko wird bisher häufig eine adjuvante Chemotherapie empfohlen“, so Schmidt. Oft ist das aber eine Übertherapie. Schmidt geht aufgrund zahlreicher Studiendaten davon aus, dass pro Jahr mehr als 10.000 Frauen unnötigerweise eine Chemo erhalten. Professor Dr. Marion Kiechle, Direktorin der Frauenklinik Klinikum Rechts der Isar an der TU München, kann das nur bestätigen: „Es sind mindestens 10.000, eher mehr.“ Das Problem: Bisher konnte niemand genau vorhersagen, wer von der Chemo profitiert und wer nicht.
Mittlerweile lässt sich mit genetischen Analysen die Prognose einer ER+/HER2- Patientin sehr viel genauer fassen. Dabei werden nicht einzelne Gene untersucht, sondern „genetische Fingerabdrücke“ des Tumors, die aus mehreren Genen bestehen. Die Fachwelt redet in diesem Zusammenhang von Genexpressionsanalysen. Am bekanntesten ist der Oncotype DX, der von der in den USA ansässigen Firma Genomic Health entwickelt wurde. Er erlaubt eine Unterteilung der Patientinnen in der traditionell „intermediären“ Risikogruppe in Hochrisiko- und Niedrigrisikopatientinnen. Dazwischen liegen erneut Patientinnen mit intermediärem Risiko. Aber das sind natürlich sehr viel weniger Frauen als in der „klassischen“ Intermediärgruppe. Ein neuerer Genexpressionstest ist der in Europa entwickelte EndoPredict. Er erlaubt eine scharfe Abgrenzung zwischen hohem und niedrigem Risiko – ohne Intermediärgruppe. Schmidt und Kiechle können vorrechnen, was das konkret bedeutet: In Deutschland erkranken derzeit etwa 74.000 Frauen pro Jahr neu an Brustkrebs. Davon fallen ungefähr 50.000 in die relevante Kategorie ER+/HER2-. Plusminus die Hälfte davon landet gemäß traditioneller Risikostratifizierung in der Intermediärgruppe. Das sind etwa 25.000 Patientinnen, denen heute – so sieht das der Bewertungsausschuss der Selbstverwaltung – eine Chemotherapie empfohlen werden sollte. Würden diese Patientinnen alle beispielsweise mit EndoPredict getestet, dann landeten 60 Prozent von ihnen in der Niedrigrisikogruppe, in der keine Chemotherapie nötig sei, so Schmidt.
10.000 beziehungsweise, nach dieser Rechnung, sogar 15.000 unnötige Chemotherapien, das ist natürlich eine Hausnummer. Wer den Spitzenverband der Krankenkassen und die Kassenärztliche Bundesvereinigung damit konfrontiert, der erhält dann auch entsprechende Abwehrreaktionen. Diese gehen in zwei Richtungen. Zum einen weisen sowohl KBV als auch GKV darauf hin, dass die Genexpressionsanalyse auch bisher nicht Leistungsbestandteil der GKV gewesen sei. Entsprechend könne sie durch die EBM-Änderung gar nicht herausgenommen worden sein. Das ist nun allerdings eine Interpretationsfrage, letztlich ein Streit um die Definition des Mutationsbegriffs. Tatsache ist, dass die bisherige Formulierung der relevanten EBM-Ziffern eben nicht eindeutig war. Dies habe zur Folge gehabt, dass durchaus erfolgreich über diese Ziffern abgerechnet worden sei, betont der Präsident des Bundesverbands Deutscher Pathologen (BDP), Professor Dr. Werner Schlake. Den Spitzenverbänden ist das auch bewusst: Die Tests seien bisher „eigentlich nicht“ übernommen worden, heißt es bei der KBV sibyllinisch.
Die zweite Verteidigungslinie der Selbstverwaltung gegen den Vorwurf, tausende Frauen in Deutschland unnötigen Chemotherapien auszusetzen, ist wissenschaftlicher Natur: Es wird bezweifelt, dass Oncotype DX und EndoPredict validiert genug seien, um Frauen auf dieser Basis guten Gewissens von einer Chemotherapie abraten zu können. Weder Schmidt noch Schlake noch Kiechle können dieses Argument nachvollziehen. Beide Tests seien anhand sauberer historischer Kollektive validiert, so Kiechle: „Sie erlauben es, hervorragend zwischen Patienten mit guter und schlechter Prognose zu diskriminieren.“ Das sehen nicht nur die Hersteller und die Fachärzte so, sondern auch Behörden in immer mehr Ländern, zuletzt das NICE in Großbritannien. Auch hier muss man wieder etwas ausholen: Bei den angesprochenen „historischen“ Kohorten handelt es sich keineswegs um irgendwelche retrospektiven Daten. Es geht vielmehr um so genannte prospektiv-retrospektive Studien. Dabei werden Gewebeproben aus prospektiven Brustkrebsstudien in der Vergangenheit genetisch untersucht und dann mit den Rezidivereignissen in den jeweiligen Studien korreliert. Dieses Vorgehen ist dank jahrzehntelanger Gewebearchivierung sehr nah an einer „echten“ prospektiven Studie. Es hat den Vorteil, dass es nicht jene fünf bis zehn Jahre dauert, die in neuen Studien für den Nachweis unterschiedlicher Rezidivquoten ins Land gehen würden. Schmidt betont, dass es international mittlerweile einen Konsens gebe, derartige prospektiv-retrospektive Studien als ausreichende Validierung für die Etablierung genetischer Prognosefaktoren anzuerkennen. „In Deutschland hat die Organkommission Mamma der Arbeitsgemeinschaft Gynäkologische Onkologie das auch so in ihre Empfehlungen aufgenommen“, so Schmidt. Die Selbstverwaltung und hier speziell die Krankenkassen beharren dagegen auf „echte“ prospektiven Studien.
Allerdings vergaloppiert sich der Spitzenverband der GKV hier argumentativ etwas. In der sehr raschen und ausführlichen Antwort des Verbands auf eine Anfrage von DocCheck findet sich unter anderem folgender Satz: „Selbst Oncotype DX, der bisher am besten untersuchte Test, wird in der internationalen Fachwelt noch als so unsicher angesehen, dass derzeit eine große internationale Studie mit über 10.000 Frauen zur Beantwortung dieser lebenswichtigen, noch offenen Fragen durchgeführt wird.“ Das ist so nur teilweise richtig. Tatsächlich wird der Test derzeit in der großen prospektiven TAILORx-Studie validiert. Diese Studie konzentriert sich allerdings nicht auf Frauen mit intermediärem Risiko gemäß klassischen Risikofaktoren, sondern nur auf jene, die in der bisher üblichen Auswertung des Oncotype DX ein „genetisch“ intermediäres Risiko aufweisen. Mit anderen Worten: Die Studie stellt, anders als die GKV suggeriert, überhaupt nicht in Frage, dass der Test Frauen mit niedrigem und hohem Risiko korrekt „aussortieren“ kann. Es geht in der Studie vielmehr nur um jene Frauen, bei denen der Oncotype DX bisher keine eindeutigen Ergebnisse liefert. Hinzu kommt, dass für den zweiten relevanten Test, den EndoPredict, jene Fragestellung, die in der TAILORx-Studie untersucht wird, gänzlich irrelevant ist, weil es diese „genetische“ Intermediärgruppe beim EndoPredict gar nicht mehr gibt.
Diese ganze Geschichte zeigt exemplarisch ein ungelöstes Problem im deutschen Gesundheitswesen: Es gibt bisher kein wirklich akzeptiertes Vorgehen für die Validierung von Diagnostik, und schon gar nicht für die Validierung prognostischer Gentests. Dass das nicht jene prospektiven Riesenstudien sein können, die zu Recht für therapeutische Maßnahmen gefordert werden, ist letztlich jedem klar. Aber anders als beim britischen NICE hat sich in Deutschland im Ping-Pong zwischen Kassenärzten, GKV, Gemeinsamem Bundesausschuss und IQWiG noch kein Konsens entwickelt. Und das öffnet zwangsläufig Politstrategen die Tür, die sich mehr für Leistungsbeschreibungen im EBM und deren Verteilungsauswirkungen als für medizinische Realitäten interessieren. Früher oder später wird es eine Einigung geben, zumal die Genexpressionstests zumindest im Fall des ER+/HER2- -Brustkrebs durch die hohe Zahl einsparbarer Chemotherapien nicht einmal Zusatzkosten verursachen dürften. Laut KBV ist beim GBA ein Antrag zur Methodenbewertung nach §137e, SGB V, für den Oncotype DX anhängig. Für den mit weniger PR-Power hinterlegten und in hiesigen Pathologischen Instituten durchführbaren EndoPredict ist das derzeit aber noch nicht der Fall. Vorerst bleibt nur, die 2000 bis 3000 Euro, die die Tests kosten, entweder selbst auf den Tisch legen oder einen Einzelantrag bei der Kasse zu stellen – sofern frau nicht das Glück hat, bei einer jener Krankenkassen versichert zu sein, die die Tests bezahlen. Denn die gibt es durchaus.