Funktionelle gastrointestinale Störungen treten oft zusammen mit Depressionen oder Angststörungen auf – auch bei Kindern. Ohne rechtzeitige Behandlung ziehen sich psychosomatische Leiden bis ins Erwachsenenalter hinein. Deshalb fordern amerikanische Pädiater, genau hinzusehen.
Die achtjährige Anne hat wieder einmal Bauchschmerzen, das dritte Mal in diesem Monat. Ihr Kinderarzt kann organisch nichts finden – weder gibt es Hinweise auf eine Appendizitis, eine Gastritis noch auf sonstige Erkrankungen. Für ihn ist es jetzt an der Zeit, Rat von Kollegen einzuholen: Nicht selten lassen sich funktionelle Abdominalschmerzen (functional abdominal pain, FAP) mit psychischen beziehungsweise sozialen Ursachen erklären.
Laut WHO-Schätzungen kennt jeder fünfte Schüler in Deutschland das Problem, sei es durch steigenden Leistungsdruck, Versagensängste oder Mobbing in der Klasse. Passive Bewältigungsstrategien, etwa Wunschdenken, Vermeidung oder Verleugnung, sind mit stärkeren Bauchschmerzen, Angst und Depression assoziiert. Im Gegensatz dazu lassen aktive Copingstrategien mit problemlösendem Ansatz die Symptome schneller abklingen. Eltern, die überfürsorglich oder extrem kritisch auf Abdominalbeschwerden reagieren, machen die Sache deutlich schlimmer. Hinzu kommt, dass gerade Mütter betroffener Kinder öfter Angst oder Depressionen haben als der Bevölkerungsdurchschnitt. Gut gemeinte Hinweise, Befindlichkeitsstörungen ihrer Kinder würden sich früher oder später von selbst „auswachsen“, sind da eher kontraproduktiv. Schon beim ersten Verdachtsmoment bleibt nur, genauer hinzusehen.
Um FAP zu charakterisieren, haben Ärzte sogenannte Rom-III-Konsensus-Kriterien entwickelt. Die Quintessenz: Kinder oder Jugendliche sollten im Quartal mindestens drei Mal an FAP-Symptomen leiden. Dazu gehören Dyspepsien, abdominelle Migräne und das Reizdarmsyndrom. Bei kleinen Patienten kommt es oft zu Übelkeit, Erbrechen, Durchfall, Müdigkeit sowie zu Kopfschmerzen. Zwischen 25 bis 45 Prozent aller Betroffenen, je nach Studie, haben die Beschwerden fünf Jahre und länger. Neben der eigentlichen Symptomatik machen Schulkindern Leistungsdefizite und soziale Einschränken das Leben zusätzlich schwer. Sie sind seltener sportlich aktiv, nehmen kaum an außerschulischen Aktivitäten teil und haben langfristig eine niedrigere soziale Kompetenz. Das ist aber nur ein Aspekt.
Lynn Walker von der Vanderbilt University School of Medicine, Nashville, Tennessee, untersuchte jetzt psychische Komorbiditäten bei 332 Schülern von acht bis 17 Jahren. Alle Kinder und Jugendlichen litten seit mindestens drei Wochen an Bauchschmerzen ohne organische Grunderkrankung. Als Kontrollgruppe dienten 147 beschwerdefreie Probanden gleichen Alters. Zu Beginn fanden gastrointestinale und psychiatrische Untersuchungen statt, die wiederholt wurden, sobald Studienteilnehmer das 20. Lebensjahr erreicht hatten. Rund 30 Prozent berichteten beim Follow-up von Angststörungen, in der Kontrollgruppe waren es nur zwölf Prozent. Das errechnete Lebenszeitrisiko lag bei 51 Prozent (Kontrollgruppe: 20 Prozent). Auch das Lebenszeitrisiko für Depressionen war signifikant erhöht (40 versus 16 Prozent). Darüber traten funktionelle gastrointestinale Probleme deutlich öfter auf. Angesichts dieser Zahlen rät Lynn Walker allen Kinderärzten dringend, Abdominalbeschwerden trotz fehlender Grunderkrankungen ernst zu nehmen. Die Beschwerden gelten als Hinweis, dass Patienten besonders anfällig für Depressionen und Angststörungen sind und möglicherweise noch im jungen Erwachsenenalter dagegen ankämpfen müssen.
Auch in späteren Lebensjahren bleibt der Zusammenhang zwischen FAP und Angst beziehungsweise Depression auffällig, berichtet Susanna A. Walter, Linköping. Sie wählte 272 Probanden im Alter von 27 bis 71 Jahren zufällig aus, ohne weitere Kriterien. Dann folgten gastroenterologische und labormedizinische Untersuchungen, um organische Erkrankungen auszuschließen. Auch mussten die Teilnehmer ein „Gesundheitstagebuch“ führen sowie den modularen Rom-II-Fragebogen ausfüllen. Psychosomatische Befindlichkeitsstörungen erfasste Walter über die Hospital Anxiety and Depression Scale, und über den Short Form-36 bekam sie Informationen zur gesundheitsbezogenen Lebensqualität. Auch hier zeigte sich das bekannte Bild: Angst- und Depressions-Scores waren bei Probanden mit Bauchschmerzen deutlich höher als bei Altersgenossen ohne die Symptomatik. Walter fand auch Hinweise, dass die Lebensqualität durch FAP deutlich eingeschränkt wird.
In diesem Zusammenhang untersuchte Michel Bouchoucha, Paris, speziell Gender-Aspekte. Der Forscher erfasste bei 385 Patienten FAP-Symptome über die Rom-III-Konsensus-Kriterien. Auf einer Analogskala konnten Studienteilnehmer zudem Symptome wie Bauchschmerzen, Verstopfung oder Durchfall angeben. Seelische Befindlichkeitsstörungen zeichnete Bouchoucha über das Beck-Depressions-Inventar beziehungsweise das State-Trait Anxiety Inventory auf. Wie zuvor schon Susanna A. Walter, fand der französische Kollege ebenfalls Zusammenhänge zwischen gastrointestinalen Befindlichkeitsstörungen, allen voran Bauchschmerzen, und seelischen Erkrankungen. Ein wichtiger Unterschied: Bei Männern sind es eher Angststörungen, während Frauen häufiger mit Depressionen zu kämpfen haben.
Was bringt das alles für die Praxis? Zur Beurteilung und Behandlung von FAP hat Natoshia R. Cunningham, Cincinnati, Handlungsempfehlungen vorgelegt: Zuerst sollten Betroffene gastroenterologisch untersucht werden – hinter einer vermeintlichen FAP können sich immer noch schwere Erkrankungen verbergen. Gleichzeitig warnt Cunningham bei Patienten ohne Alarmsymptome vor Überdiagnosen. Vielmehr lautet sein Rat, Angst, Depressionen und Schmerzen über geeignete Scores zu erfassen. Zur Behandlung selbst kommen multidisziplinäre Konzepte infrage, beispielsweise die Schulung von Kindern und Eltern. Im Rahmen kognitiver Verhaltenstherapien lernen Kinder wiederum, ihre Ängste altersgemäß zu verstehen und entwickeln zusammen mit Therapeuten geeignete Vermeidungsstrategien. Bei der Expositionstherapie geht es um potenziell Angst einflößende Situationen im Alltag, die nachgespielt werden. Cunningham selbst hält niedrig dosierte Antidepressiva ebenfalls für geeignet – eher eine Ultima Ratio, sollten alle Stricke reißen.