Neue Hiobsbotschaften aus den Bürgerkriegsgebieten Syriens: Mehrere Menschen sind an Symptomen der Kinderlähmung erkrankt. Durch Flüchtlingsströme hat sich daraus eine globale Bedrohung entwickelt. Das Ziel, Polio global auszurotten, ist in weite Ferne gerückt.
Nach zwei Jahren im Bürgerkriegszustand kommen aus Syrien jetzt neue Schreckensnachrichten: Wie die Global Polio Eradication Initiative berichtet, wurden bei zehn Patienten Infektionen mit dem Serotyp 1 des Poliovirus (WPV1) bestätigt. Insgesamt gab es 22 Verdachtsfälle. Aufgrund katastrophaler hygienischer Verhältnisse sind viele Millionen Menschen bedroht. Poliomyelitis wird meist durch Schmierinfektionen sowie durch kontaminierte Lebensmittel übertragen, seltener über eine Tröpfcheninfektion. Lediglich fünf Prozent aller Infizierten entwickeln das Krankheitsbild mit ZNS-Beteiligung. Neben aseptischen Meningitiden treten typischerweise Muskellähmungen an den Extremitäten und am Rumpf auf. Sind Interkostalmuskeln betroffen, droht ein Atemstillstand.
Gesundheitsminister der Region sprechen jetzt von einem "Notfall" und wollen mit Impfkampagnen rasch gegensteuern – kein leichtes Unterfangen. Syriens stellvertretender Außenminister Faisal Mekdad versprach, humanitäre Organisationen in die umkämpften Gebiete zu lassen, damit Ärzte wieder impfen können. Gleichzeitig warf er Rebellen vor, Konvois angegriffen und geplündert zu haben. Seine Gegner bestreiten alle Vorwürfe. US-amerikanische Regierungsvertreter kritisieren wiederum, die Regierung Syriens habe internationalen Organisationen den Zugang zu Krisengebieten verwehrt. Das dementiert Mekdad. Trotz aller Probleme lief die internationale Hilfe umgehend an. Laut WHO-Vertretern sind 650.000 Impfungen allein in Syrien geplant. Zu kleinteilige Lösungen sind aber gefährlich – Polio ist längst zum internationalen Thema geworden.
Grund genug für die Strategic Advisory Group of Experts (SAGE) on Immunization, über Möglichkeiten zur Ausrottung der Kinderlähmung zu sprechen. Experten trafen sich vom 5. bis zum 7. November in Genf. Sie werden ihre Resultate bald veröffentlichen. Zuvor waren in Israel WPV1-Viren nachgewiesen worden – in 91 Abwasserproben aus 27 unterschiedlichen Stellen. Professor Dr. Martin Eichner vom Universitätsklinikum Tübingen und Stefan O. Brockmann vom Kreisgesundheitsamt Reutlingen warnen jetzt vor der Einschleppung entsprechender Viren nach Europa. Das Robert-Koch-Institut stuft den Poliomyelitis-Impfschutz bei Schulkindern zwar als "sehr gut" ein – 94,7 Prozent haben eine entsprechende Immunisierung. Bei Erwachsenen liegt der Wert laut DEGS-Studie bei 85,6 Prozent. Besonders schlecht ist die Durchimpfung in Bosnien (83 Prozent), Herzegowina (87 Prozent), in der Ukraine (74 Prozent) sowie in Österreich (83 Prozent). Für Syrien geben Wissenschaftler eine Impfquote von 75 Prozent an, und zwar vor dem Bürgerkrieg. Auch in gut durchimpften Ländern könnten Bevölkerungsgruppen oder Regionen mit geringer Durchimpfung zum Problem werden. Da bei nur einem von 200 Ungeimpften, Infizierten tatsächlich Symptome auftreten, könnte Polio in Deutschland unerkannt eingeschleppt werden, befürchten Eichner und Brockmann. Sie sehen als Gefahr, dass sich Viren in unzureichend immunisierten Bevölkerungsgruppen ausbreiten, ohne dass Ärzte dies bemerken. Einer Modellrechnung zufolge treten Erkrankungen möglicherweise erst nach zwölf Monaten auf. Wissenschaftler fordern darüber hinaus, Abwasserproben systematisch auf entsprechende Pathogene zu screenen – speziell an Orten, an denen syrische Flüchtlinge untergebracht sind oder generell eine erhöhte Wachsamkeit geboten scheint.
Ganz klar, Impfungen sind nun Mittel der Wahl. Ein Blick zurück: Attenuierte Viren (orale Poliomyelitis-Vakzine, OPV), wie sie vor 1998 bei Schluckimpfungen verwendet wurden, hatten erhebliche Vorteile. Sie schützten nicht nur geimpfte Individuen selbst. Durch Schmierinfektionen kam es indirekt zu einer extrem hohen Durchimpfung der Bevölkerung. Erreger konnten sich nicht ausbreiten, so dass auch ungeimpfte Menschen einen gewissen Schutz hatten. Immunologen kennen dieses Phänomen als Herdenimmunität. In seltenen Fällen kam es jedoch zu einer Impfpoliomyelitis. Heute setzen Ärzte Totimpfstoffe (inaktivierte Poliomyelitis-Vakzine, IPV) ein. Hier wird ein hoher Durchimpfungsgrad der Bevölkerung benötigt, um einen sicheren Schutz zu bieten. Eichner und Brockmann beanstanden in ihrer Arbeit, das Impfen von Flüchtlingen mit IPV allein könne sich als unzureichend erweisen. Schluckimpfungen böten einen wesentlich stärkeren Infektions- und Übertragungsschutz als IPV, seien aber nur noch in wenigen EU-Staaten zugelassen. Neben Flüchtlingen betrifft das Thema auch Mediziner, Touristen und Geschäftsleute mit entsprechenden Reisezielen. Neben Syrien sind vor allem die Türkei, Israel, Jordanien, der Libanon, der Irak und die palästinensischen Autonomiegebiete zu nennen. Kollegen vom Centrum für Reisemedizin (CRM) raten dieser Personengruppe, ihren Polio-Schutz überprüfen zu lassen. Liegt die letzte Impfung mehr als zehn Jahre zurück, empfehlen Experten eine Auffrischung.
Punktuelle Maßnahmen lösen das grundlegende Problem aber nicht. Grund genug für die WHO, eine globale Polioeradikationsinitiative zu starten. Seit 1988 ist die Zahl an Erkrankungsfällen in Risikogebieten von 350.000 auf 250 im Jahr gesunken. So lange Polio nicht weltweit ausgerottet wurde, müssen Ärzte immer mit neuen Ausbrüchen rechnen. Aktuell sind neben Syrien auch Somalia, Nigeria und Pakistan betroffen.