Mehrere Milliarden Euro sollen in die zwei größten Forschungsprojekte seit der Entschlüsselung des menschlichen Genoms fließen. Dabei geht es um die Frage: Wie steuert das Gehirn den Körper und wie entstehen Gedanken?
„In einer halben Minute produziert das menschliche Gehirn etwa genauso viel Daten wie das Weltraumteleskop Hubble in seiner gesamten Lebenszeit.“ Es sind die erstaunlichen Leistungen im Kopf jedes Menschen, die nicht nur Forscher wie etwa Konrad Korting von der Northwestern University in Chicago faszinieren. Noch mehr Beispiele gefällig? Bei einem Datenfluss von einem Terabyte pro Sekunde verbraucht das Gehirn nur etwa ein Zehntel der Energie eines Laptop-Computers. Dabei versorgt es rund 100 Milliarden Nervenzellen. Das entspricht im Internet etwa der gesamten Anzahl an Webseiten. Jede Webseite hätte im Vergleich zum zentralen Nervensystem des Menschen mehrere Tausend Links – Verknüpfungen zu anderen Knotenpunkten für wichtige Informationen.
Wie kann so etwas funktionieren? Das wollen große Forschungsprojekte in den USA und Europa in den nächsten 10 bis 15 Jahren mit einem beträchtlichen finanziellen Aufwand herausfinden. Das Problem: Die bisherigen Methoden wie etwa die funktionelle Magnetresonanztomografie (fMRT) liefern nur recht grobe Informationen, die sich zudem an indirekten Markern wie der Sauerstoffversorgung einer bestimmten Region orientieren. Eines scheint auch klar: Dem „Bewusstsein“ lässt sich keine bestimmte Gehirnregion zuordnen. Das zeigen Fälle von Tumoren oder Traumapatienten, die auch nach dem Verlust von großen Teilen ihres Gehirns kaum Bewusstseinsstörungen haben. Das Netzwerk spielt dabei die Hauptrolle. Das Gehirn ist nicht hierarchisch organisiert.
Wer aber erforschen will, wie das Bewusstsein im Schädelinneren aussieht, kommt nicht darum herum, die Aktivität möglichst vieler Nervenzellen gleichzeitig zu messen. Mit dem aktuellen Stand der Technik können Neurologen bis jetzt mehreren Hundert Neuronen gleichzeitig bei der Arbeit zusehen. Im Februar dieses Jahren zeigten Techniker eine „Neuroprobe“-Sonde mit knapp 500 Siliziumelektroden, in etwa drei Jahren hofft man bei 2000 zu sein. Gegen Ende des europäischen „Human Brain Projects“ (HBP) in 10 bis 15 Jahren, so stellt es sich sein Initiator Henry Markram von der École Polytechnique Fédérale in Lausanne vor, sollen Sensoren die Aktivität von rund einer Million Nerven simultan aufzeichnen.
Rund 80 europäische und internationale Forschungsinstitutionen versuchen in diesem Projekt, die Funktionsweise des humanen Denkapparats zu entschlüsseln. Vor einigen Wochen fand in Lausanne ein erstes Treffen der Beteiligten statt. Inzwischen steht ein grobes Programmgerüst, welche Ziele in den nächsten Jahren finanziert und dann auch verwirklicht werden sollen. Dabei ist auch das Forschungszentrum Jülich, gelegen im Dreieck zwischen Köln, Düsseldorf und Aachen. Im Sommer dieses Jahres veröffentlichte Katrin Amunts zusammen mit Kollegen und Mitarbeitern eine hochauflösende Gehirnkarte, wie es sie zuvor noch nicht gegeben hatte. Mehr als 7000 gefärbte Mikrotomschnitte vom Gehirn einer 65-jährigen Frau mit einer Dicke von 20 Mikrometern setzte ein Computer zu einem Gesamtbild zusammen. Ein solcher dreidimensionaler Plan ist die Basis für detaillierte Forschungen. Sie sollen aufklären, wie sich das Gehirn etwa bei Alzheimer oder primärer progressiver Aphasie abbaut. Dementsprechend will die Arbeitsgruppe in den nächsten Jahren noch mehr Gehirne kartieren und in noch weit größerer Auflösung zur Verfügung stellen.
Mehr als 180 Millionen Menschen in Europa sind von Erkrankungen des Gehirns betroffen. Nach welchem Muster entstehen die Netzwerke im Kopf und wodurch werden die Leitungen und Schaltkreise gestört? Computersimulationen, die auf die Versuchsergebnisse der Forscher aufbauen, sollen solche Fragen beantworten. In Zusammenarbeit zwischen Jülich und mehreren japanischen Institutionen stellten Wissenschaftler die Aktivität von rund 1,7 Milliarden Neuronen mit mehr als 10 Billionen Synapsen in einer Sekunde nach. Die Verknüpfungen entstanden am Rechner per Zufallsprinzip und nicht zielgerichtet. Auch wenn das berechnete virtuelle neuronale Netzwerk gerade einmal einem Hundertstel des menschlichen entspricht, so ist diese Simulation „eine richtungsweisende Vorarbeit“, sagt Markus Dismann aus Jülich. „Sie zeigt, was heute technisch möglich ist und wo die Grenzen liegen.“
Solche Modelle sind auch notwendig, um medizinisch relevante Erkenntnisse zu gewinnen. Wohl nur damit lassen sich im Experiment gezielte Veränderungen einführen, die im Tierversuch oder gar am Menschen nicht zu verwirklichen sind. Mit dem Wissen aus diesen Manipulationen, so hoffen die Forscher, lassen sich dann auch verborgene Schätze aus den Klinikarchiven heben. Dort lagern Aufnahmen, die in Verbindung mit den entsprechenden Krankheitsverläufen wertvolle Erkenntnisse liefern können, wie das Nervensystem auf solche Störungen reagiert. Letztendlich hofft Markram auf die Entwicklung von E-Drugs, Medikamente, die entsprechend den Computeranalysen am Bildschirm entstehen. Im besten Fall sind diese zukünftigen Wirkstoffe auf die Persönlichkeit des Patienten, kodiert im Gehirn, abgestimmt. Das Human Brain Projekt soll aber nicht nur die Neurologie weiterbringen. „Das Vorbild Gehirn ist der einzig mögliche Leitgedanke für die IT der Zukunft“, sagt Alois Knoll von der TU München. Schaltkreise in sogenannten „neuromorphen“ Computerchips sollen sich die Architektur der menschlichen Steuerungszentrale zum Vorbild nehmen. Je nach zeitlichem Muster von eingehenden Signalen entscheidet der Schaltkreis, wann und zu welcher Zeit er bestimmte Signale aussendet. Wie das Ganze bei einem so geringen Energieverbrauch wie dem der humanen Steuerzentrale effektiv funktioniert, ist auch Gegenstand intensiver Untersuchungen.
Auch jenseits des Atlantik ist das Gehirn Gegenstand aufwändiger Forschungsprojekte. In den USA soll das Projekt BRAIN (Brain Research through Advancing Innovative Neurotechnologies) die Aktivität aller Nervenzellen im Kopf aufklären. Die Hauptantriebsmotoren sind dabei die nationale Gesundheitsbehörde NIH, die Forschungsinstitution des Verteidigungsministeriums DARPA, die „National Science Foundation“ (NSF) und einige große private Forschungsinstitutionen. Die DARPA ist besonders daran interessiert, mit den neuen Erkenntnissen ihren Soldaten nach Verletzungen zu helfen oder sie noch besser auf einen Kampfeinsatz vorzubereiten. Dazu sollen auch Mittel dienen, die Aktivität des Gehirns ohne invasiven Eingriff zu manipulieren. Ein Beispiel dafür ist etwa die „Transkranielle Magnetstimulation“, die zu einer gezielten Stimulierung bestimmter Gehirnregionen für gewünschte Effekte weiterentwickelt werden könnte. Die Steuerung von Apparaten oder Prothesen mit Gedankenkraft sind weitere denkbare Anwendungen.
Für beide Großprojekte gilt: Die Methoden, die den Ablauf menschlicher Steuerungsvorgänge und Gedanken im Detail aufzeichnen und analysieren sollen, gibt es noch gar nicht. Analog zum Genomprojekt hoffen die Lenker darauf, dass sich schon bald entsprechende Apparate und Techniken finden, um beispielsweise „Hintergrundprozesse“ im Nervensystem, die unbewusst ablaufen, von zielgerichteten Vorgängen zu trennen. Nicht alle Experten sind davon begeistert, so viel Geld in ein einziges großes Projekt zu stecken, über dessen Stoßrichtung nur wenige Koordinatoren entscheiden. So existieren neben den Milliarden an Neuronen im Gehirn noch sehr viel mehr nicht leitfähige Gliazellen. Einige ihrer Grundfunktionen sind zwar bekannt, wie etwa die Bildung der Myelinscheide, der Steuerung des Ionenhaushalts oder der Immunabwehr im Gehirn. Dennoch scheinen sie noch viel mehr Aufgaben als bisher bekannt zu erfüllen. Ein eigenes „Gliaprojekt“ taucht aber in den Forschungsvorhaben nicht auf, wie Douglas Fields vom amerikanischen NIH in „Nature“ kritisch bemerkt. Wird sich der Menschen in einigen Jahrzehnten selber beim Denken zusehen können und verstehen, was sein Gehirn dabei treibt? Wird er Bewusstseinsstörungen mit gezielten Eingriffen unter der Schädeldecke heilen können? Mit jeweils rund einer Milliarde Euro für das nächste Jahrzehnt hoffen die Forscher, zumindest etwas Licht in das Dunkel menschlicher Gehirnwindungen zu bekommen.
Mitte September präsentierte Jürgen Knoblich vom Wiener Institut für molekulare Biotechnologie in „Nature“ ein „Gehirn in der Zellkulturschale“, das sich aus embryonalen Stammzellen entwickelt hatte. In dem rund einen halben Zentimeter großen Gebilde konnten die Forscher etliche Vorstufen von spezialisierten Gehirnorganen wie Augen, Hypophyse oder die Grundstruktur des zerebralen Kortex erkennen. Mögliche Anwendung: Modellsystem für Entwicklungsstörungen und daraus resultierende Krankheiten. Sowohl am Computer als auch im Labor werden uns weitere solche spektakuläre Ergebnisse mehr Wissen um die Funktionsweise menschlicher Datenverarbeitung bringen. Ob sich jedoch nachbauen lässt, was die Persönlichkeit eines Menschen ausmacht, daran darf gezweifelt werden. Glücklicherweise.