Vergesslichkeit und schwindende Sehkraft sind oft Ursachen für die mangelnde Therapietreue von älteren Patienten. Neben Ratschlägen könnten im digitalen Zeitalter auch Gesundheitsapps oder interaktive Beipackzettel dabei helfen, ihre Compliance zu fördern. Denn durch mehr Therapietreue ließen sich Milliarden einsparen.
Neues aus den Koalitionsverhandlungen: Dieses Mal stehen pharmazeutische Hersteller im politischen Fokus. Union und SPD wollen das Preismoratorium für Medikamente außerhalb von Festbeträgen verlängern. Gleichzeitig planen sie, an Zwangsrabatten in Höhe von sieben Prozent festzuhalten – dieser Obolus sollte bis Jahresende eigentlich wegfallen. Jens Spahn (CDU) rechnet mit Einsparungen in Höhe 600 bis 700 Millionen Euro pro Jahr. Während Verbände über „Planwirtschaft“ schimpfen, betont Professor Dr. Karl Lauterbach (SPD), er habe der Industrie eigentlich noch mehr abknöpfen wollen.
Wieder einmal greifen Sparmaßnahmen punktuell, ohne das Große und Ganze im Blick zu haben. Dazu ein Blick auf Zahlen von IMS Health: Allein durch Maßnahmen zur Verbesserung der Pharmakotherapie ließen sich weltweit 500 Milliarden US-Dollar pro Jahr einsparen – immerhin acht Prozent der Gesundheitskosten. An erster Stelle ist die mangelnde Therapietreue von Patienten zu nennen (269 Milliarden). Dann folgen Ausgaben durch einen verzögerten Therapiebeginn sowie durch falsch eingesetzte Antibiotika (je 62 Milliarden). Immense Verluste entstehen auch durch Fehlmedikationen (42 Milliarden US-Dollar), durch den suboptimalen Einsatz von Generika (30 Milliarden) und durch Probleme bei multimorbiden Patienten mit Polymedikation (18 Milliarden). Für Deutschland schlägt die Non-Compliance laut IMS Health pro Jahr mit 12,9 Milliarden Euro zu Buche, gefolgt von Fehlmedikationen (1,8 Milliarden Euro). Durch unsachgemäß eingesetzte Antibiotika beziehungsweise durch einen zu späten Therapiebeginn kommen jeweils 1,6 Milliarden Euro hinzu. Und Schwierigkeiten bei Generika führen zu Verlusten in Höhe von 0,3 Milliarden Euro.
Apotheker versuchen seit Jahren, die Compliance ihrer Patienten zu verbessern – ein vielschichtiges Thema. Britische Wissenschaftler um Mika Kivimäki sind jetzt der Frage nachgegangen, inwieweit Job oder Ruhestand von Bedeutung sind. Über finnische Register identifizierten sie 3.468 Erwachsene mit Hypertonie und 412 mit Typ-2-Diabetes. Kivimäki erfasste jeweils drei Jahre vor beziehungsweise vier Jahre nach der Verrentung entsprechende Verschreibungsdaten. Als schlechten Wert definierte er, dass Probanden an weiniger als 40 Prozent aller Tage ihre Medikation korrekt einnahmen. Vor der Pension traf dieses Kriterium auf sechs Prozent aller Männer beziehungsweise Frauen mit Hypertonie zu. Bei Diabetes nahmen es zwei Prozent der Männer und vier Prozent der Frauen nicht allzu genau mit ihren Arzneimitteln. Im verdienten Ruhestand wurden Männer hinsichtlich der Pharmakotherapie generell nachlässiger, während von dem Phänomen nur Frauen mit Hypertonie betroffen waren. Wie sich dieses Phänomen erklären lässt, ist unklar.
Um die Compliance zu fördern, sollten Ärzte und Apotheker Maßnahmen auswählen, die zur Lebenswelt ihrer Patienten passen. Ein Beispiel: Smartphones verbreiten sich mehr und mehr, gerade bei den 50- bis 64-Jährigen. Was liegt näher, als Apps einzusetzen? IMS Health hat mehr als 43.000 Gesundheitstools bei iTunes unter die Lupe genommen. Davon richten sich 16.275 unmittelbar an medizinische Laien. Zur Verbesserung der Compliance fanden Autoren der Studie 225 Apps. Sie erinnern an die regelmäßige Einnahme von Medikamenten oder bieten Tagebuchfunktionen an. Für Diabetiker existieren besonders viele Helferlein – meist von Firmen programmiert. Speziell in den USA ermöglicht eine App, dass Apothekenkunden neue Rezepte anfordern und ihre Arzneimitteldokumentation einsehen. Ob entsprechende Programme tatsächlich die Compliance verbessern, ist von neutraler Seite bislang nicht untersucht worden. Anbieter erzählen gern die Erfolgsgeschichte ihres jeweiligen Produkts. Beispielsweise soll „Pillbox“ bei Typ-2-Diabetikern zu einer 80-prozentigen Compliance führen, das sind 26 Prozent mehr als üblich. Methodisch stehen diese Studien auf tönernen Füßen – Werte vor und nach Anwendung der App wurden nicht verglichen. Wie IMS Health weiter schreibt, ist trotz anders lautender Verkaufszahlen das Alter momentan ein zusätzlicher Hinderungsgrund: Während 65 Prozent der 18- bis 25-Jährigen mindestens eine Gesundheitsapp nutzen, sind es bei 50- bis 64-Jährigen 25 Prozent, und bei der Generation „65 plus“ lediglich acht Prozent.
Bleibt als Warnung, dass nicht alle Schwierigkeiten digital lösbar sind: Haben ältere Menschen zu wenig Kraft in den Händen, werden Kindersicherungen schnell zur unüberwindlichen Hürde. Manche Versiegelungen oder Tubenverschlüsse erfordern ebenfalls Muskeln. Hier unterstützen Apotheker, indem sie Gebinde auf Wunsch bereits vor Ort öffnen. Lässt die Sehkraft nach, werden Beipackzettel zum unüberwindlichen Hindernis. Patienten profitieren von gesprochenen oder groß gedruckten Packungsbeilagen im Web. Durch farbliche Kennzeichnungen gelingt es außerdem, Verwechslungsrisiken zu minimieren. Laut der ABDA – Bundesvereinigung Deutscher Apothekerverbände – haben sich tastbare Aufkleber bewährt, etwa aus Sandpapier. Wer mit Tropfenzählern Schwierigkeiten hat, kann Tropfen in einen leeren, sauberen Joghurtbecher fallen lassen, heißt es weiter. Danach wie gewohnt Wasser einfüllen und das Medikament einnehmen. Gerade banale, alltagstaugliche Ratschläge helfen Patienten und fördern ihre Compliance.
Viele Möglichkeiten, ein Plan: Um zu ermitteln, welche Gelder sich durch mehr Therapietreue sparen lassen, benötigen Kostenträger verlässliche Zahlen. In Sachsen und Thüringen läuft deshalb eine Feldstudie zum ABDA-KBV-Modell an. Unter dem Namen ARMIN (Arzneimittelinitiative Sachsen-Thüringen) verordnen Mediziner Arzneistoffe, inklusive Wirkstärke, Galenik und Therapiedauer. Ein Wirkstoffkatalog unterstützt sie bei häufigeren Erkrankungen. Apotheker wählen unter pharmazeutischen und ökonomischen Kriterien das passende Präparat aus. Module zum Medikationsmanagement kommen später noch hinzu. Momentan feilen Verantwortliche noch an Details – spätestens Anfang Februar könne ein Vertrag unterschriftsreif sein. Dann haben Ärzte, Apotheker und weitere Krankenkassen neben der AOK Plus die Möglichkeit, sich einzuschreiben. Mit guten Daten hoffen Heilberufler, Leistungsträger auch vom monetären Nutzen des Konzepts zu überzeugen.