Nicht alle schwer übergewichtigen Personen weisen ein erhöhtes Risiko für Herz-Kreislauf-Erkrankungen oder Diabetes auf. Forscher haben nun mögliche Diagnosekriterien analysiert, um metabolisch gesunde und kranke Adipositas-Patienten besser voneinander unterscheiden zu können.
Adipositas tritt gehäuft in den Industrieländern auf, aber auch in den Schwellenländern nimmt die Fettleibigkeit immer mehr zu. Mediziner sprechen von einer Adipositas, wenn der Body-Mass-Index (BMI) größer als 30 ist. Je größer das Übergewicht der Betroffenen ist, desto größer ist normalerweise ihr Risiko, an kardiovaskulären Leiden oder Typ-2-Diabetes zu erkranken. Doch ein kleiner Teil der stark übergewichtigen Menschen scheint vor diesen Krankheiten geschützt zu sein. Nun haben Wissenschaftler in der Fachzeitschrift The Lancet Diabetes & Endocrinology mögliche Diagnosekriterien vorgestellt, mit deren Hilfe Mediziner besser als bisher Menschen mit einer metabolisch gesunden Adipositas erfassen können. Der Epidemiologe Professor Matthias Schulze vom Deutschen Institut für Ernährungsforschung (DIFE) in Potsdam und der Mediziner Professor Norbert Stefan von der Universitätsklinik Tübingen analysierten dafür alle relevanten, in den vergangenen 15 Jahren veröffentlichten epidemiologischen Studien, in deren Rahmen eine Unterscheidung zwischen metabolisch gesunden und metabolisch kranken Adipositas-Patienten gemacht wurde. Für die Einteilung der Teilnehmer in eine der beiden Gruppen verwendeten die an diesen Studien beteiligten Wissenschaftler unterschiedliche Kriterien: Entweder gab die körperliche Fitness der Probanden den Ausschlag dafür, in welcher Gruppe sie sich wiederfanden, oder ob sie insulinresistent waren oder nicht. In einigen der Studien entschied über die Eingruppierung aber auch die Ab- oder Anwesenheit von Risikofaktoren wie zum Beispiel Bluthochdruck und erhöhte Fettwerte.
Am Ende des Beobachtungszeitraum der jeweiligen Studie zeigte sich fast immer, dass in der Gruppe der metabolisch gesunden Adipositas-Patienten prozentual deutlich weniger Teilnehmer gestorben waren als in der Vergleichsgruppe. „Aufgrund der unterschiedlichen Kriterien, mit deren Hilfe die Gruppen gebildet wurden, waren in der einen Gruppe 30 Prozent aller Patienten metabolisch gesund, in einer anderen jedoch nur 10 Prozent“, sagt Schulze, der die Abteilung Molekulare Epidemiologie des DIFE leitet. „Weder die genauen Kriterien noch die entsprechenden Grenzwerte sind bisher wirklich definiert. Deswegen sind weitere, noch systematischere Studien nötig.“ Schulze und Stefan sind sich einig, dass wahrscheinlich das Vorhandensein einer Insulinresistenz, also das verminderte Ansprechen von Körperzellen auf Insulin, ein wichtiges Kriterium ist, mit dessen Hilfe man beide Patientengruppen voneinander unterscheiden könnte. Um festzustellen, ob ein Patient noch ausreichend auf Insulin anspricht, nimmt man diesem Blut ab und bestimmt die Konzentration von Glukose und Insulin im Blut. Anschließend rechnet man mithilfe der beiden Werte den so genannten HOMA-Index aus: Ist dieser größer als 2,5, ist der Patient wahrscheinlich insulinresistent. Als Reaktion auf eine Insulinresistenz kommt es zu einer Steigerung der Insulinproduktion, die wiederum die vermehrte Speicherung von Fetten in Organen bedingt.
Aus diesem Umstand leiten sich zwei weitere Warnhinweise für eine metabolisch gefährliche Adipositas ab: „Eine Fettleber und ein großer Taillenumfang deuten daraufhin, dass das Körperfett ungünstig verteilt ist“, sagt Stefan, der Leiter der klinisch-experimentellen Diabetologie der Universitätsklinik Tübingen ist. „Metabolisch gesunde Übergewichtige haben Fett vor allem unter der Haut und in den Beinen.“ Anscheinend, so der Mediziner, sorge eine bessere Fettverbrennung durch die Mitochondrien dafür, dass sich nur wenig Fett in den Organen anlagere. Übergewichtige mit der richtigen Fettverteilung litten auch nicht an einer subklinischen Inflammation: Fett, das in den Organen sitzt, kann nämlich eine permanente Entzündungsreaktion auslösen – mit der Folge, dass weiteres Fett ins Blut freigelassen wird und sich die Gefäße immer stärker atherosklerotisch verändern. Inwieweit eine richtige Fettverteilung genetisch veranlagt oder durch körperliche Aktivität beziehungsweise eine spezielle Ernährungsweise beeinflussbar ist, ist noch nicht vollständig klar. Deswegen betonen Schulze und Stefan, dass noch wesentlich mehr Forschung erforderlich ist, wenn das Konzept der Unterscheidung zwischen metabolisch gesunden und kranken Adipositas-Patienten Eingang in die klinische Praxis finden soll. Eine genauere Definition für eine metabolisch unbedenkliche Adipositas würde nicht nur bedeuten, dass möglicherweise kostenaufwändige Maßnahmen zur Gewichtsreduzierung wie etwa die bariatrische Chirurgie auf die Gruppe der am meisten gefährdeten übergewichtigen Personen beschränkt werden könnte. Sie könnte auch bei der Entwicklung von Wirkstoffen von Nutzen sein, die vor Stoffwechselkrankheiten schützen. „Das heißt aber nicht, das metabolisch gesunde Adipositas-Patienten keine Therapie brauchen“, so Stefan. „Auch diese Patienten leiden an Gelenkproblemen oder Schlafapnoe.“
Eine Lebensstilintervention steht bei beiden Gruppen an erster Stelle der möglichen Maßnahmen, aber noch gibt es keine spezifischen Leitlinien, die Ärzten die Entscheidungsfindung für das richtige Vorgehen bei metabolisch gesunden Übergewichtigen erleichtern würden. „Prävention und Behandlung beider Adipositas-Formen sind wichtig, um das Risiko chronischer Krankheiten zu verringern“, sagt Stefan. „Denn die gesundheitlichen Folgen von Adipositas sind gut belegt.“ Man könne, so der Mediziner, davon ausgehen, dass besonders die weltweite Zunahme von Typ-2-Diabetes und kardiovaskulären Erkrankungen auch der epidemischen Adipositas zuzuschreiben seien.