Nachdem sich Pädiater in Belgien für die Sterbehilfe bei Minderjährigen ausgesprochen haben, ändern Behörden jetzt die gesetzlichen Grundlagen. Von Befürwortern als Akt der Humanität gepriesen, befürchten Gegner eine Banalisierung des Todes. In Deutschland traut sich niemand an das Thema heran – weder bei Kindern, noch bei Erwachsenen.
Belgien galt in puncto Sterbehilfe schon immer als liberales Land: Aufsichtsbehörden registrieren zwischen 1.100 und 1.400 Fälle pro Jahr, und zwar bei erwachsenen Patienten. Trotz des aktuell geltenden Verbots schätzen Experten, dass mindestens zehn Kinder pro Jahr durch aktive Sterbehilfe um ihr Leben kommen. Grund genug, bestehende Regelwerke anzupassen.
Im Herbst hatten sich 16 Pädiater öffentlich für die Novellierung ausgesprochen. Sie argumentierten, Sterbehilfe sei zwar eine „Ultima Ratio“, dürfe aber auch kleinen Patienten nicht vorenthalten werden. Hinzu kam eine repräsentative Umfrage, bei der sich 38 Prozent aller Teilnehmer mit entsprechenden Änderungen „ganz und gar einverstanden“ zeigten. Weitere 36 Prozent waren zumindest „eher damit einverstanden“ – ein breiter gesellschaftlicher Konsens. Die Niederlande hatten Mitte 2013 bereits Regelungen erlassen, um Sterbehilfe bei Babys zu legalisieren. Jetzt ist Belgien unter Zugzwang: Ende November sprach sich der zuständige Senatsausschuss für Justiz und Soziales dafür aus, in besonders schwerwiegenden Fällen auch Sterbehilfe bei Minderjährigen zu legalisieren. Senator Philippe Mahoux sagte, für ihn gehe es darum, auf das Drama der Kinder eine Antwort zu finden, die nicht zu lindernde Schmerzen hätten. Dem Entwurf zufolge müssen nicht nur ihre Eltern zustimmen, sondern kleine Patienten ein eigenständiges Urteilsvermögen besitzen. Jetzt warten Ärzte gespannt auf das Senatsplenum und die zweite Kammer des Parlaments, wobei ein positives Votum als recht wahrscheinlich gilt.
Vertreter aller großen Kirchen sprachen sich gegen entsprechende Pläne aus und äußerten sich unisono besorgt – man befürchte die „zunehmende Banalisierung einer ernsten Sache“. Nicht ohne Grund, wie Fälle mit erwachsenen Patienten zeigen: Ende 2012 gewährten Ärzte einem tauben Zwillingspaar Sterbehilfe, nachdem bei den Patienten zusätzlich eine degenerative Netzhauterkrankung aufgetreten war – wohlgemerkt nichts Lebensbedrohliches. Und Ende September sorgte der Tod eines Mannes für negative Schlagzeilen. Er war als Frau geboren worden und hatte sich ohne Erfolg einer Geschlechtsumwandlung unterzogen. Auch ihm wurde Sterbehilfe gewährt. Hubert Hüppe (CDU), Behindertenbeauftragte der Bundesregierung, kritisierte diese Entwicklung scharf: „Der Fall bestätigt das, wovor ich schon lange gewarnt habe: Wenn man beginnt, den Lebensschutz aufzuweichen, kommt man auf eine schiefe Bahn.“ Erst gehe es um „Töten auf Verlangen, dann um Töten ohne Verlangen“. An die neue Bundesregierung gerichtet, fordert er schärfere Regelungen: „Bei uns fehlt ein klares gesetzliches Verbot der Anstiftung oder der organisierten Beihilfe zur Selbsttötung, gerade auch für Ärzte.“ Das beinhalte auch „Angebote für organisierte Sterbehilfe“.
Auf entsprechende Vorgaben warten Ärzte und Patienten bereits seit Jahren. Mit dem Dritten Gesetz zur Änderung des Betreuungsrechts hat die damalige Bundesregierung Mitte 2009 zumindest Rechtssicherheit für Patienten geschaffen, die intensivmedizinische Maßnahmen bei unheilbaren Erkrankungen ablehnen, ihre Meinung aber nicht mehr äußern können. Laut Bundesgerichtshof (Az.: 2 StR 454/09) ist der „Abbruch lebenserhaltender Behandlungen auf der Grundlage des Patientenwillens nicht strafbar“. Aktive Sterbehilfe bleibt gemäß Paragraph 216 des Strafgesetzbuches jedoch verboten. Führen Ärzte den Tod eines Patienten nicht herbei, sondern händigen ihm lediglich Tabletten aus, sprechen Juristen von Beihilfe zur Selbsttötung, und Kollegen bleiben straffrei. Darüber hinaus erwähnen Rechtswissenschaftler noch indirekte Formen der Sterbehilfe bei totkranken Menschen, beispielsweise durch die terminale Sedierung. Experten sehen auch hier eine Straffreiheit des Arztes als gegeben an.
Sterbehilfe hat laut einer Studie im Fachmagazin „Amyotrophic Lateral Sclerosis and Frontotemporal Degeneration“ aber nicht nur juristische, sondern vor allem psychosoziale Dimensionen. Wissenschaftler um Ralf J. Jox, München, befragten unter anderem 66 ALS-Patienten zu diesem heiklen Thema. Jeder zweite Patient könnte sich vorstellen, um Sterbehilfe zu bitten, und 14 Prozent hatten einen entsprechenden Todeswunsch. Damit gingen Depression, Einsamkeit und die Befürchtung, anderen Menschen zur Last zu fallen, einher. Zwei Drittel hatten mit ihren Angehörigen gesprochen – aber kein einziger Patient mit seinem Arzt. Obwohl Jox nur Daten von ALS-Patienten erfasst hat, lassen sich seine Resultate auf andere Krankheiten mit tödlichem Ausgang übertragen, etwa Krebs oder COPD. Um die Situation etwas zu entschärfen, helfen laut den Autoren psychosoziale Beratungen, wovon aktuell noch zu wenige Menschen profitieren. Die Deutsche Schmerzgesellschaft und die Deutsche Gesellschaft für Palliativmedizin sind jedoch der Meinung, eine flächendeckende Versorgung mit Schmerztherapeuten und mit Palliativeinrichtungen würde menschlichen Bedürfnissen mehr entsprechen als „fragwürdige Tötungsangebote“.