Wissenschaftler haben nun erstmals das vogelspezifische Virus H6N1 bei einem Menschen nachgewiesen. Noch droht keine akute Gefahr, aber in Deutschland klafft eine riesen Forschungslücke auf, die verheerende Folgen haben könnte.
Es kommt nicht häufig vor, aber wenn, dann kann es dramatische Folgen nach sich ziehen: Wenn ein Vogelgrippevirus aufgrund von genetischen Veränderungen auch den Menschen befallen kann, ist die Basis für eine Pandemie geschaffen. Zu trauriger Berühmtheit gelangte dabei auch die sogenannte Spanische Grippe, die zwischen 1918 und 1920 weltweit mehr als 25 Millionen Todesopfer forderte. Wie kann es dazu kommen?
Influenza-A-Viren besitzen zwei Oberflächenproteine: Hämagglutinin (H) und Neuraminidase (N). Hämagglutinin bindet an Sialinsäuren, die als Rezeptoren fungieren und auf Proteinen der Wirtszelle sitzen. Diese Bindung setzt die virale Infektion in Gang. Damit dieser Vorgang funktioniert, muss das Hämagglutinin zu den Oberflächenstrukturen der Zelle wie ein Schlüssel ins Schloss passen. Bei der Verknüpfung der Sialinsäuren gibt es einen wesentlichen Unterschied zwischen Menschen und Vögeln: Bei Vögeln sind die Sialinsäuren meist α-2,3-verknüpft, bei Menschen oft α-2,6. Auch die Verteilung dieser Verknüpfungen ist bei Menschen und Vögeln unterschiedlich. Erst wenn beispielsweise die Struktur des Hämagglutinins durch Mutationen verändert wird, ist ein zuvor vogelspezifisches Virus in der Lage, den Menschen zu befallen. „Bei den Subtypen H5 und H7 ist noch ein weiterer Mechanismus bekannt. Alle Hämagglutinine müssen vor der Infektion gespalten werden. Diese Virensubtypen kommen jedoch bereits mit gespaltenem Hämagglutinin auf die Welt, wodurch sie sofort hoch infektiös sind. Viren dieser Subtypen haben auch beim Menschen schon zu zahlreichen Todesfällen geführt“, erklärt Prof. Dr. Stephan Ludwig, Leiter des Instituts für molekulare Virologie der Westfälischen Wilhelms-Universität in Münster.
Von den insgesamt 16 Hämagglutinin-Subtypen sind sieben in der Lage, den Menschen zu infizieren. H6 zählte bisher nicht dazu. Das Influenza-A-Virus H6N1 kommt eigentlich nur bei Vögeln vor. Im Mai dieses Jahres wurde nun erstmals eine Infektion eines Menschen mit dem Influenza-A-Virus Subtyp H6 bekannt. Die Pathogenität des seit 1972 bekannten Virussubtyps gilt für Vögel zwar als gering, da es nicht über bereits gespaltene Hämagglutinin-Proteine auf seiner Oberfläche verfügt. Dennoch versetzt jeder Übergang eines Influenzavirus auf den Menschen Seuchenbeauftragte und Wissenschaftler in äußerste Wachsamkeit.
Der Vorfall begann mit einer 20-jährigen Frau, die im Mai 2013 mit hohem Fieber, trockenem Husten und Atemnot in ein Krankenhaus eingeliefert wurde. Der routinemäßige Abstrich im Hals der Patientin zeigte, dass erwartungsgemäß ein Influenza-Erreger ihre Grippesymptome verursacht hatte. Allerdings war die Variante des Erregers H6N1 noch nie zuvor bei einem Menschen identifiziert worden, wie Forscher des Centres for Disease Control in Taiwan aktuell im Fachmagazin „Lancet“ berichten. Molekularbiologische Untersuchungen zeigten, dass eine Mutation im Bereich des Virusgenoms, der für das Hämagglutinin-Protein codiert, der Grund dafür war. Sie hatte dafür gesorgt, dass das Vogelgrippevirus die Patientin überhaupt infizieren konnte. Die Mutation hatte zu einer Veränderung der Hämagglutinin-Oberfläche geführt, wodurch sich das Virus an bestimmten Oberflächenrezeptoren in den oberen Atemwegen der Patientin anlagern konnte.
Wo sich die Frau mit dem Virus infiziert haben könnte, bleibt unklar. Sie hatte weder Kontakt zu Geflügel, noch war sie in den letzten drei Monaten vor ihrer Infektion auf Reisen gewesen. Auch in ihrer Wohnung und in den nächstgelegenen Geflügelfarmen konnten keine H6N1-Viren nachgewiesen werden. Im Krankenhaus wurde die Patientin über 4 Tage mit dem Neuraminidase-Hemmer Oseltamivir und dem Antibiotikum Levofloxacin behandelt. Die 20-jährige Frau hat ihre Infektion mit H6N1 ohne bleibende Schäden überstanden. Dennoch wächst die Sorge unter den Forschern, denn genetische und phylogenetische Untersuchungen belegten, dass sich H6N1-Viren mit dieser besonderen Mutation, die sie zur Infektion menschlicher Zellen befähigt, möglicherweise bereits seit der Jahrtausendwende unter taiwanesischem Geflügel ausbreitet.
Auf Nachfrage von DocCheck berichteten die Studienautoren allerdings, dass bis heute (26.11.13) kein weiterer Fall einer H6N1-Infektion bekannt wurde. „Nach dem momentanen Stand ist nicht davon auszugehen, dass wir mit einer neuen Pandemie rechnen müssen“, so Prof. Ludwig, der nicht an der H6N1-Studie beteiligt war. „Doch auch das alte Dogma, dass nur Subtypen mit Hämagglutinin-Spaltstellen besonders schlimme Infektionen beim Menschen hervorrufen können, hat das vermehrte Auftreten von H7N9 mit tödlichem Ausgang im Frühjahr dieses Jahres gezeigt“, so der Virologe weiter. H6N1 fehlen diese Spaltstellen ebenfalls. Obwohl momentan keine akute Gefahr droht, weiß Prof. Ludwig, dass Grippeviren unberechenbar sind: „Expect the unexpected – wirklich vorhersagen lässt sich bei Grippeviren nichts.“
Wenn doch eine Pandemie entsteht, dann wäre es jetzt bereits zu spät, diese zu stoppen. Daher suchen Virologen nach Möglichkeiten, veränderte Viren bereits vor dem Übertritt auf den Menschen ausfindig zu machen. „Das kann nur durch eine intensive Forschung an den Pathogenitätsdeterminanten gelingen, denn sie geben Auskunft darüber, welche Mutationen ein Virus dazu befähigen können, auf den Menschen überzuspringen“, so Prof. Ludwig. Darüber wisse man schon einiges, aber bei weitem nicht alles. Diese Marker, die einen Übertritt auf den Menschen begünstigen, müssten dann regelmäßig in Vogelpopulationen überprüft werden, erklärt der Virologe. Diesbezüglich würde Deutschland allerdings gerade einen Schritt zurückgehen. „Mit der Einführung des Deutschen Zentrums für Infektionsforschung mit bundesweit sechs Standorten und ihrer klinisch translationalen Ausrichtung wurde dieser Forschungsbereich völlig ausgeklammert“, so Prof. Ludwig. Die Verbundforschung, die sich bisher um die Zoonosen gekümmert hat, würde nicht mehr finanziell unterstützt. Und das, obwohl ca. 60 Prozent aller menschlichen Infektionen auf Zoonosen zurückzuführen seien. Der Virologe sieht in diesem Bereich dringenden Handlungsbedarf, denn „unser derzeitiges System kann erst dann eingreifen, wenn das Kind bereits in den Brunnen gefallen ist“.