Die globale Ausbreitung von Krankheitserregern kann schwerwiegende gesundheitliche, gesellschaftliche und ökonomische Folgen haben. Wissenschaftler stellten nun eine neue mathematische Theorie vor, die unser Verständnis globaler Seuchenausbreitung verbessern könnte.
Epidemiologische Modellierungen gewinnen bei Public-Health-relevanten Entscheidungen zunehmend an Bedeutung, etwa bei der Modellierung der Folgen von Impfempfehlungen. Die Veröffentlichung von Dirk Brockmann, Professor an der Humboldt-Universität zu Berlin (HU) und Projektgruppenleiter am Robert Koch-Institut (RKI), stellt die neue Theorie zusammen mit seinem Kollegen Dirk Helbing von der ETH Zürich in der neuesten Ausgabe des Wissenschaftsmagazins Science vor.
Mit Hilfe des neuen Ansatzes kann man den Ursprungsort von Krankheiten in Zukunft genauer bestimmen und außerdem berechnen, wann die Epidemie voraussichtlich einen beliebigen Ort in der Welt erreicht. Wo liegt der Ursprungsort eines neuen Erregers? Wo werden die nächsten Krankheitsfälle auftreten und wann? Computersimulationen, die ähnlich wie in der modernen Wettervorhersage die Ausbreitung zu prognostizieren versuchen, sind extrem aufwändig und erfordern die genaue Kenntnis von krankheitsspezifischen Eigenschaften. Diese sind jedoch gerade bei neuartigen Erregern noch nicht bekannt.
Die theoretischen Physiker und Komplexitätsforscher Dirk Brockmann und Dirk Helbing haben nun einen neuen Ansatz entwickelt: Ihre mathematische Theorie beruht auf der Idee, dass geographische Entfernungen nicht mehr maßgeblich sind, sondern durch „effektive“ Entfernungen ersetzt werden müssen. Aus der Perspektive von Frankfurt zum Beispiel sind andere Metropolen wie London oder New York effektiv nicht weiter entfernt als geographisch nahe Orte wie Bremen oder Leipzig. Die Forscher konnten zeigen, dass sich „effektive Entfernungen“ direkt aus den Reiseströmen des Flugverkehrsnetzes bestimmen lassen: Reisen viele Menschen von A nach B, dann ist die effektive Entfernung von A nach B klein. Reisen nur wenige Menschen, ist die effektive Entfernung groß. Diese Idee haben die Forscher dann in eine mathematische Theorie übersetzt.
Betrachtet man komplexe geographische Ausbreitungsmuster von SARS (2003) oder Influenza A („Schweinegrippe“, 2009) mit Hilfe der Theorie, dann werden aus den komplexen raum-zeitlichen Ausbreitungsmustern regelmäßige, kreisförmige Wellenfronten, die sich mathematisch leicht beschreiben lassen. Damit lassen sich Ausbreitungsgeschwindigkeit von Krankheiten berechnen und bestimmen, zu welchem Zeitpunkt eine Wellenfront einen beliebigen Ort der Welt voraussichtlich erreichen wird oder wo ein Infektionsgeschehen seinen Anfang genommen hat. Originalpublikation: The Hidden Geometry of Complex, Network-Driven Contagion Phenomena Dirk Brockmann et al.; Science, doi: 10.1126/science.1245200, 2013