Pharmaunternehmen verteidigen ihre Rechte an Original-Arzneistoffen vehement. Um Generika-Herstellern nicht das Feld zu überlassen, haben sie sogar Rechte an einen Indianerstamm übertragen. Ein listiger Trick, um sich Billigkonkurrenz vom Leib zu halten.
Patente schützen neue, innovative Pharmaka vor Konkurrenten. Die Frist beträgt weltweit einheitlich 20 Jahre, wobei Hersteller deutlich weniger Zeit zur Vermarktung haben. Zulassungsstudien nehmen mindestens zwei bis drei Jahre in Anspruch, und das Zulassungsverfahren selbst dauert zwölf bis 16 Monate. Damit bleiben je nach Präparat zehn bis 15 Jahre, um Gewinne zu erwirtschaften. So manche Firma nutzt Hintertürchen, um sich Generika-Hersteller vom Leibe zu halten.
Generika sind wirkstoffgleiche Kopien eines Originalpräparats. Aufgrund des niedrigeren Preises sind sie für viele Krankenkassen interessant. Erst die Konkurrenz mehrerer Unternehmen ermöglicht es, Rabattverträge abzuschließen. Eigentlich kommen Generika erst nach Ende der Schutzfrist auf den Markt, sprich nach zehn bis 15 Jahren. In den USA gibt es aber eine Ausnahme: Generika-Hersteller lassen bestehende Patente außergerichtlich überprüfen („Patent Review“), um schneller eigene Pharmaka auf den Markt zu bringen. Seit 2011 übernimmt das Patent Trial and Appeal Board entsprechende Aufgaben. Im besten Falle für Generika-Produzenten gelingt der Angriff, und forschenden Herstellern des Originalpräparats bleibt noch weniger Zeit zur Wertschöpfung. Sie bewerten das Verfahren als „unangemessen“ und „unfair“, schließlich durchläuft jeder Patentantrag per se umfangreiche Prüfungsverfahren. Industrievertreter suchen ihrerseits nach Lücken, um Wirkstoffe zu verteidigen. Kürzlich hat Allergan, ein international tätiges Pharmaunternehmen aus den USA, eine rechtliche Lücke im amerikanischen Gesetz ausgenutzt. Der Hersteller übertrug kurzerhand seine Patente für Restasis® (Ciclosporin-Augentropfen) auf den Saint Regis Mohawk Tribe, einem nordamerikanischen Indianerstamm. Obendrein erhalten die Beschenkten einmalig 13,75 Millionen US-Dollar plus jährlich 15 Millionen US-Dollar an Lizenzgebühren. Im Gegenzug versprachen die Mohawks, sich bei gerichtlichen Auseinandersetzungen auf ihre verbriefte Autonomie zu berufen, eine US-amerikanische Besonderheit. Demnach hat kein Sondergericht die Möglichkeit, Patente in Stammeshand für ungültig zu erklären. Laut dem Chief Legal Officer bei Allergan, A. Robert D. Bailey, könne das Unternehmen nicht riskieren, sein Patent auf Restasis® zu verlieren. Der Umsatz lag im zweiten Quartal 2017 bei 336,4 Millionen US-Dollar.
„Falls es Allergan gelingt, seine Patente zu halten, werden wir wahrscheinlich sehen, dass mehrere Markenunternehmen ihre Patente an indigene Stämme übertragen“, spekuliert der US-amerikanische Analyst Ronny Gal. Hersteller von Originalpräparaten haben es mit der Strategie leichter, ihre Monopolstellung zu festigen – sehr zum Ärger von Generika-Produzenten. Das israelische Pharmaunternehmen Teva, das als Weltmarktführer bei Generika gilt, ärgert sich über so ein Vorgehen. Es würde nur allzu gerne selbst ein ähnliches Präparat auf den Markt bringen. Deshalb bewertet Teva-Sprecherin Denise Bradley den Deal als „eine neue und ungewöhnliche Möglichkeit für Unternehmen, den Zugang zu qualitativ hochwertigen und erschwinglichen generischen Alternativen zu verzögern“. Man sei neugierig, wie Regierungsbehörden das Vorgehen kommentieren würden. Sherrod Brown, Senator der Demokraten aus Ohio, kündigte bereits an, nach Möglichkeiten zu suchen, um Schlupflöcher zu stoppen. Er ist der Meinung diese Vereinbarung sei Abzocke und dürfe nicht „das neue Normale werden“.
Der Schachzug von Allergan ist in Europa nicht möglich. Mittel und Wege, sich das Leben zu erleichtern, gibt es trotzdem. Dazu gehören vor allem Arzneimittel gegen seltene Erkrankungen. Seit die Europäische Union seltene Krankheiten zur Chefsache gemacht hat, erfreuen sich Orphan Drugs großer Popularität. Marktforscher geben als weltweiten Umsatz in diesem Bereich 114 Milliarden US-Dollar an, Stand 2016. Innerhalb der EU profitieren Firmen gleich von mehreren Vorteilen, falls innovative Präparate unter einen Orphan Drug-Status fallen. Vertreter der Europäischen Arzneimittel-Agentur (EMA) erlassen oder reduzieren Gebühren. Gleichzeitig erhalten Konzerne unabhängig vom Patentschutz eine zehnjährige Marktexklusivität. Ähnliche Medikamente werden vom Markt ferngehalten, falls diese nicht überlegen sind. Auch das deutsche Arzneimittelmarktneuordnungsgesetz (AMNOG) läuft geschmeidiger. Bei der Frage zum Nutzen kann sich der Hersteller auf die Bewertung im Rahmen des Zulassungsverfahrens berufen. Er muss keine weiteren Daten vorlegen. Und die Quantifizierung des Zusatznutzens nimmt der G-BA ohne Beauftragung des Instituts für Qualität und Wirtschaftlichkeit im Gesundheitswesen (IQWiG) vor. Damit fallen zwei Hürden weg. „Fast die Hälfte der Orphan Drugs sind heute Mittel gegen Krebs“, erklärte Wolf-Dieter Ludwig, Vorsitzender der Arzneimittelkommission, gegenüber dem Handelsblatt. Tumorerkrankungen würden einfach in viele kleine Untergruppen aufgeteilt, um dann für jede ein eigenes Medikament zu entwickeln. Erzielt das Orphan-Medikament einen Jahresumsatz von 50 Millionen Euro oder mehr, wird es allerdings wie ein gewöhnliches Arzneimittel behandelt. Krebs steht im Mittelpunkt: Medikamente mit Orphan Drug-Status in der EU nach Indikationen © vfa Gesundheitsexperte Gerd Glaeske nennt das Orphan-Arzneimittel Revlimid® (Lenalidomid) von Celgene als Beispiel. Es ist in der EU bei Patienten mit multiplen Myelom zugelassen, die bereits eine Standardtherapie erhalten haben. Onkologen verschreiben Revlimid® aber Off-Label bei Chronisch Lymphatischen Leukämien (CLL). „Wenn die Anwendungsbereiche so ausgeweitet werden, ist der Orphan-Drug-Status irrelevant“, so Glaeske weiter.
Ein überschaubarer Patientenkreis hat aus Firmensicht aber auch seine Vorteile. Das Interesse von Generika-Herstellern, hier aktiv zu werden, ist nicht so groß. Das macht selbst alte Präparate zu Goldschätzen, wie folgender Fall zeigt. Patienten mit zerebrotendinöser Xanthomatose stellen aufgrund von Gendefekten keine funktionsfähige Sterol-27-Hydroxylase her. Cholestanol und andere Zwischenprodukte der Gallensäuresynthese sammeln sich im Körper an. Die Therapie ist vergleichsweise einfach: Patienten erhalten orale Chenodesoxycholsäure. Chenodesoxycholsäure © Wikipedia, CC0 Das seit Jahrzehnten bekannte Molekül half ursprünglich, Gallensteine aufzulösen und sollte nicht viel Geld kosten. Weit gefehlt. Das Pharmaunternehmen Sigma-Tau übernahm das Altpräparat Xenbilox® und ersetzte es durch das wirkstoffgleiche, aber 15-fach teurere Chenodesoxycholsäure Leadiant®. Auch Martin Shkreli, bekannt als „meistgehasster Mann des Internets“, kam so zu Geld. Mit seinem Unternehmen Turing Pharmaceuticals (heute Vyera Pharmaceuticals) kaufte er alle Rechte an Daraprim® (Pyrimethamin) und erhöhte den Preis von 13,50 Dollar auf 750 Dollar. Menschen mit Immundefekten, unter anderem AIDS-Patienten, benötigen Daraprim® zur Behandlung der Toxoplasmose. Den absurd hohen Preis können viele Patienten nicht zahlen. Dabei ist der Preis keinesfalls gerechtfertigt: Das Molekül lässt sich einfach nachkochen, wie Experimente in einem Schullabor zeigten. Um ein Generikum auf den Markt zu bringen, müssten Firmen jedoch weitere Daten vorlegen, etwa zur Bioäquivalenz mit dem Originalpräparat. Daran hat niemand Interesse. Pyrimethamin © Wikipedia, CC0
Um derartigen Praktiken ein Ende zu bereiten, sieht das internationale Patentrecht Zwangslizenzen vor. Ein wichtiges Urteil wurde jetzt in Deutschland gesprochen. Dabei ging es um die Frage, ob Merck & Co (MSD) Isentress® (Raltegravir) hierzulande weiter vertreiben darf. Der Integrase-Inhibitor wird zur Behandlung von Patienten mit HIV-Infektion verordnet. Virologen setzen Isentress® häufig bei Schwangeren, Neugeborenen und Neuinfizierten ein. Bereits im Jahr 2002 hatte der japanische Hersteller Shionogi ein Patent angemeldet, das im Jahr 2012 vom Europäischen Patentamt auch erteilt worden ist. Merck ließ sich einen engeren Schutzumfang für Raltegravir in den USA patentieren. Der amerikanische Konzern beliefert Deutschland, was sein japanischer Konkurrent allzu gerne verhindern würde. Außergerichtlich gab es keine Einigung. Um die Versorgung von bestimmten Patientengruppen nicht zu gefährden, ordnete das Bundespatentgericht eine Zwangslizenz an (Az. X ZB 2/17). Mitte Juli hat der Bundesgerichtshof (BGH) dieses Urteil mit Hinweis auf § 24 Abs. 1 Patentgesetz (PatG) bestätigt. Demnach seien Zwangslizenzen unter zwei Voraussetzungen möglich:
Im beschriebenen Fall seien beide Kriterien erfüllt worden, heißt es im Urteil. Damit muss Shionogi seinem Konkurrenten Merck vorerst Rechte am europäischen Patent für Raltegravir einräumen, um den deutschen Markt zu beliefern. Das juristische Tauziehen geht in die nächste Runde.