Mit Hilfe der Mitochondrien-Ersatztherapie wollen Forscher verhindern, dass Mütter bestimmte erbliche Krankheiten an ihre Nachkommen weitergeben. Doch das bislang verbotene Verfahren könnte unerwartete Nebenwirkungen haben und vor allem für Jungen ein Risiko darstellen.
Fast unser gesamtes Erbgut befindet sich im Zellkern. Doch ein kleiner Teil der menschlichen Gene sitzt in den Mitochondrien, die in großer Anzahl den Zellkern umgeben. Die so genannten Kraftwerke der Zellen werden über die Eizelle ausschließlich von der Mutter an ihre Nachkommen weitergegeben. Defekte in den Mitochondrien-Genen können zu verschiedenen Erkrankungen führen – von leichten Lernbehinderungen bis zu Muskelschwund und anderen lebensbedrohlichen Herz-, Muskel- und Hirnerkrankungen. Experten schätzen, dass in Deutschland pro Jahr rund eines von 10.000 Kindern mit einem Gendefekt der Mitochondrien auf die Welt kommt.
Eine Möglichkeit, die Weitergabe solch mutierter Gene zu verhindern, könnte die Mitochondrien-Ersatztherapie bieten. Bei dieser Methode ersetzen Ärzte bei einer Befruchtung im Reagenzglas defekte Mitochondrien der Mutter durch Mitochondrien einer gesunden Spenderin. Die Mitochondrien-Ersatztherapie befindet sich noch im experimentellen Stadium und wurde bislang nicht an Menschen erprobt. Nach Ansicht von Professor Thomas Klopstock von der Neurologischen Klinik der Ludwig-Maximilians-Universität München, der auch Sprecher des Deutschen Netzwerks für mitochondriale Erkrankungen (mitoNET) ist, würde sich jedoch die Anzahl der behandelten Mütter wahrscheinlich in engen Grenzen halten, da das neue Verfahren nur für schwere Krankheitsfälle in Frage käme. Der Austausch der Mitochondrien greift in die menschliche Keimbahn ein – deshalb ist er nicht nur ethisch umstritten, sondern auch in Deutschland wie in den meisten anderen europäischen Ländern derzeit nach dem Embryonenschutzgesetz verboten.
Ein Forscherteam hat nun im Fachmagazin Science mitgeteilt, dass die Mitochondrien-Ersatztherapie besonders für männliche Nachkommen Gesundheitsrisiken bergen könnte. Die Wissenschaftler um Klaus Reinhardt analysierten dafür alle relevanten Studien der vergangenen Jahre, in deren Rahmen mit verschiedenen Tiermodellen an Ratten, Mäusen, Käfern und Fliegen untersucht wurde, ob der Austausch der Mitochondrien das Ablesen der genetischen Informationen aus der Zellkern-DNA verändert. „Es zeigte sich, dass viele Kombinationen von Mitochondrien- und Kern-DNA nicht gut zusammenarbeiten“, sagt Reinhardt, der Leiter einer Arbeitsgruppe am Institut für Evolution und Ökologie der Universität Tübingen ist. Der Austausch der Mitochondrien, so der Evolutionsbiologe, habe bei den Tieren die Expression der nukleären DNA verändert. „Dadurch wurde eine ganze Reihe von wichtigen Eigenschaften der Mitochondrien-Empfänger beeinflusst, von der individuellen Entwicklung über das Verhalten bis hin zu wichtigen Gesundheitsaspekten“, sagt Reinhardt. Von solchen Komplikationen wären Jungen wohl häufiger betroffen als Mädchen, da sie die Mitochondrien immer von der Mutter, niemals vom Vater erben. Denn die Evolution kann unvorteilhafte Effekte der Mitochondrien vor allem auf die Gene des vom Vater weitergegebenen Y-Chromosoms nicht ausschalten. Reinhardt: „Wenn man beispielsweise bei Fruchtfliegen die Mitochondrien auswechselt, ist ein bedeutender Anteil der männlichen Nachkommen steril, während die weiblichen Nachkommen zeugungsfähig bleiben.“
Nachdem Wissenschaftler aus den USA 2009 die Mitochondrien-Ersatztherapie bei Rhesus-Makaken erfolgreich erprobt hatten, gelang im vergangenen Jahr auch in menschlichen Eizellen der Austausch der zellulären Kraftwerke. Die Forscher erzeugten in diesen Experimenten frühe Embryos und gewannen aus diesen embryonale Stammzellkulturen. Beflügelt von diesen Erfolgen, startete die britische Aufsichtsbehörde HFEA (Human Fertilisation and Embryology Authority) eine öffentliche Diskussion über die Anwendung des neuen Verfahrens beim Menschen. In Umfragen waren zwei Drittel der befragten Briten dafür. Im kommenden Jahr soll in Großbritannien das Parlament nun über mögliche Gesetzesänderungen debattieren, die dort den Einsatz der Mitochondrien-Ersatztherapie beim Menschen schon bald möglich machen würden. Nach Ansicht von Reinhardt steckt in der neuen Technik zwar das Potenzial, Müttern mit defekten Mitochondrien-Genen zu gesunden Babys zu verhelfen, doch weitere Forschungen müssen gewährleisten, dass der Austausch der Mitochondrien möglichst keine negativen Effekte auch für Jungen mit sich bringt. Deswegen würde der Evolutionsforscher auf jeden Fall so lange abwarten, bis die Nachkommen der mit der Mitochondrien-Ersatztherapie behandelten Makaken-Affen ins zeugungsfähige Alter kommen.
Auch müsse, so Reinhardt, sichergestellt werden, dass bei Versuchen mit Primaten, die Spender- und Empfängertiere nicht nahe miteinander verwandt seien. „Denn sonst ist die Wahrscheinlichkeit automatisch sehr groß, dass die Mitochondrien-DNA der Spenderin gut zur Kern-DNA der Empfängerin passt und die Ergebnisse nicht repräsentativ für die menschliche Bevölkerung, bei der die Mitochondrien von Individuum zu Individuum stark variieren“, sagt Reinhardt. „Eine bessere Diagnostik, um herausfinden ob ein Mitochondrientyp zu einer bestimmten Kern-DNA passt, sei zwar theoretisch denkbar, doch weder bei Affen noch beim Menschen seien solche Interaktionsmuster bisher erforscht worden.“ Der Neurologe Klopstock gibt ebenfalls zu bedenken, dass die möglichen Nebenwirkungen der Mitochondrien-Therapie keineswegs geklärt sind. Er plädiert für eine Weiterführung vor allem der Versuche mit Affen. „Je näher das jeweilige Tiermodell am Menschen dran ist, desto eher kann man die Ergebnisse von Tierexperimenten auf den Menschen übertragen“, sagt Klopstock. Der Deutsche Ethikrat plant, das Thema 2014 auf seiner Jahrestagung aufzugreifen und es im Rahmen eines Veranstaltungsblocks über mögliche Eingriffe in die Keimbahn zu besprechen. Auf keinen Fall, findet Klopstock, sollte man die Mitochondrien-Ersatztherapie überstürzt einführen. Stattdessen müssten nicht nur die zusätzlichen Tierversuche erfolgen, sondern auch eine breit angelegte gesellschaftliche Debatte über das neue Verfahren stattfinden.