Hohe Erwartungen an den Arztberuf und hehre Ideale bestärken Medizinstudenten in der Studienwahl. Aber bleibt diese Begeisterung auch bestehen? Freuen sich frischgebackene Ärzte immer noch so sehr auf die Arbeit? Oder kränkeln ihre Ideale nach sechs Jahren Studium?
Das Medizinstudium ist sehr beliebt, die Anzahl der Plätze verhältnismäßig gering. Im Sommersemester 2013 gab es im Durchschnitt über 10 Bewerber pro Studienplatz und die Wartezeiten für einen Studienplatz werden immer länger. Das Studium gilt als lang, als überaus lernintensiv und anstrengend, vom Berufsleben ganz zu schweigen, mit den vielen Überstunden und der großen Verantwortung. Und obendrein wird man mit dem Beruf angeblich auch nicht mehr besonders reich. Aber weshalb wollen trotzdem so viele junge Menschen Ärzte werden? Und vor allem, bleibt die Begeisterung für die Medizin auch nach Beendigung des Studiums vorhanden? Oder verpufft sie im Laufe der Lern- und Leidensjahre? Einige Studienabsolventen erzählten uns, welche Ideale sie vor Antritt des Studiums hatten, ob sie noch aktuell sind oder nach einer Mindeststudienzeit von sechs Jahren und drei Monaten schon relativiert wurden oder zur Gänze verloren gegangen sind.
„Ich habe Ärzte vor dem Studium zutiefst bewundert. Da es in meiner Familie und in meinem Freundeskreis keine Mediziner gab, hatte ich diesen unglaublichen Respekt vor ihnen. Ich dachte, alle Ärzte müssten überaus gute Menschen, sozial sehr kompetent und einfühlsam sein, sich vor nichts ekeln und immer aufopferungsvoll für andere da sein“, erklärt Karin, die gerade ihr schriftliches Hammerexamen hinter sich hat. Natürlich gibt es einen Unterschied im Erwartungshorizont bei den jungen Studenten, die ohne Voreingenommenheit ins Studium starten. Wenn die Eltern beispielsweise bereits Ärzte sind, hat man schon vieles über das Studium gehört, es wurde einem vielleicht sogar schon davon abgeraten. Jeder Einzelne erlebt es dann zwar auf eine andere Art und Weise, aber eine Vorstellung, wie es sein könnte, haben diese Studenten schon seit Jahren. Sie kennen zumeist familär bedingt viele Ärzte, die sie sicherlich in gewisser Weise bewundern (sonst hätten sie wohl einen anderen Lebensweg eingeschlagen), wissen aber bereits, dass auch Ärzte nicht Übermenschliches leisten können. Jetzt stellt sich die Frage, wie sich das im Studium entwickelt. Werden Studenten, wie Karin, die so hohe Erwartungen hatten, enttäuscht? Oder können ihre Vorstellungen in manchen Ärzten wiedergefunden und aufrecht erhalten werden? „Erst wurde ich immer wieder enttäuscht, als ich Ärzte kennenlernte, die Patienten, meiner Meinung nach, unverschämt behandelten oder einfach nicht so gewissenhaft arbeiteten, wie ich mir das vorgestellt hatte. Aber dass dieses Ideal sich nicht bewahrheitet hat, finde ich nicht schlimm. Ich war damals einfach noch etwas naiv. Ich bewundere immer noch manche Ärzte sehr, die ich kennenlerne. Immer wieder freue ich mich, wenn ich einen Arzt oder eine Ärztin kennenlerne, der oder die ihren Beruf liebt und Wissen und Begeisterung teilen möchte. Dann gibt es andere, die ihren Job gut machen, aber frustriert oder unfreundlich sind. Und welche, bei denen man sich fragt, warum sie diesen Beruf gewählt haben, bei der Misanthropie, die sie an den Tag legen. Jetzt habe ich aber akzeptiert, dass Ärzte einfach normale Menschen sind. Es gibt gute und schlechte Ärzte, sowie gute und schlechte Lehrer, Anwälte, Verkäufer, Unternehmer...“, sagt sie mit einem Lächeln.
Anna, die nach dem Studium ihre Doktorarbeit zu Ende schreiben und danach gerne als Assistenzärztin in der Allgemeinchirurgie anfangen möchte, erzählt: „Durch das Studium wurde ich manchmal von den Menschen entäuscht. Als Arzt bzw. Arzt in Arbeit ist man eine Vertrauensperson und so wird einem alles erzählt. Dinge, die man gebrauchen kann für das Verständnis der Krankengeschichte und viele Dinge, die überflüssig sind. Und so blickt man manchmal auch in menschliche Abgründe. Wenn man beispielsweise in der Kinderheilkunde arbeitet und Fälle von Kindesmisshandlung mitbekommt, wenn man in der Gynäkologie erfährt, dass eine Frau, ohne es zu wissen, von ihrem Mann betrogen und so mit HIV angesteckt wurde oder wenn man eine Famulatur in der Rechtsmedizin macht. Das sind Momente, in denen man das Gute im Menschen anzweifelt.“ Mehr sagt sie dazu nicht, aber man merkt, dass es viele Geschichten gibt, die ihr nahe gegangen sind. Es ist vermutlich schockierend, wenn man mit 19 Jahren das Studium beginnt, vielleicht wohl behütet aufgewachsen ist, und man plötzlich von Dingen erfährt, die man bisher so nur aus Fernsehreportagen und Thrillern kannte. Zusätzlich zu vielen anderen Fähigkeiten, die man mit der Zeit erlernen muss, wird man auch ohne Vorwarnung ins wahre Leben gestürzt und muss lernen, mit Abstand an Manches heranzugehen, was einen sonst zu sehr berühren würden.
Lana erzählt mir während eines Lerntages für die mündliche Prüfung, dass es sie etwas desillusioniert hat, wie sehr das Ansehen der Ärzte in den Augen der Patienten heutzutage gesunken ist. „Natürlich habe ich nicht wegen des hohen Ansehens der Ärzte studiert. Und ich finde auch nicht, dass Patienten, wie es vielleicht vor 100 Jahren der Fall war, dem Arzt blind vertrauen sollten. Auch ist es selbstverständlich von großer Bedeutung, dass Patienten ein Recht auf Mitsprache und gute Aufklärung haben. Aber manchmal enttäuscht es mich, wenn Patienten sich wie misstrauische Kunden benehmen, die alles hinterfragen, was man sagt und sofort skeptisch sind, wenn sie bei Wikipedia und in den Gesundheitsforen eine unterschiedliche Therapiemöglichkeit nachgelesen haben.“ Das Internet, Quelle großen Wissens zumeist ungeprüfter Qualität, birgt für Gesundheitsfragen einige Gefahren. Die Informationen werden ungefiltert vom Patienten aufgenommen und wenn sie überhaupt der Wahrheit entsprechen, häufig falsch verstanden oder interpretiert. Die Patienten informieren sich immer mehr selbst, und zeigen fast genauso viel Skepsis bei einem Therapievorschlag wie bei einem Versicherungskauf. Lana vermutet zudem, dass die Patienten für die erbrachten Leistungen früher dankbarer waren. „Wenn ein Patient sich für die Zeit und Mühe bedankt, die man sich genommen hat, fällt man heutzutage fast schon aus allen Wolken. Das finde ich etwas schade, denn ein dankbarer Patient gibt einem vieles zurück. Und immer wenn man das Gefühl hat, dass man jemandem den Krankenhausaufenthalt etwas erleichtern konnte, ist man glücklich darüber. Aber jeden Tag auf mürrische, argwöhnische Patienten zu treffen, macht weniger Spaß. Wir haben nicht umsonst sechs Jahre studiert und gehen davon aus, dass wir, vor allem nach ein paar Jahren Erfahrung, etwas besser eine Erkrankung einschätzen und behandeln können als die Google-Suche dies kann.“
„Was ich mich kürzlich gefragt habe ist, wann die Ärzte in diesen Ärzteserien eigentlich dokumentieren. Mir war schon klar, dass dort nicht das wahre Arbeitsleben eines Arztes dargestellt wird. Aber eine der Haupttätigkeiten wird einfach mal eiskalt verschwiegen. Ich hätte nie gedacht, dass man so viel schreiben muss. Und ich habe nicht einmal eine schöne Schrift“, berichtet Paul, der im Januar eine Stelle in der Chirurgie antreten wird. Recht hat er. Die Dokumentation nimmt heutzutage eine so wichtige Rolle ein, dass man hofft, dass die Ärztezimmer ergonomisch sinnvoll geplant werden. Man könnte sich fragen, ob irgendwann Ärzte eine Thromboseprophylaxe brauchen, weil sie nur noch am Schreibtisch sitzen werden. Aber glücklicherweise gibt es ja noch die Visite, dabei kann man dann im Gehen und Stehen schreiben. Paul erklärt weiter: „Es ist Pflicht, zu dokumentieren, denn wenn irgendwas schief geht und die einzelnen Schritte des Patienten während des Krankenhausaufenthaltes nicht gut genug dokumentiert sind, kann man sich direkt einen guten Anwalt suchen. Und die Ärztebriefe – gerade in der Inneren – können Längenausmaße annehmen, dass ich mich manchmal frage, warum wir nicht auch mal Aufsätze oder häufiger Patientenberichte während des Studiums schreiben mussten, um uns darauf vorzubereiten.“
Tina, 29 Jahre alt, hat vor dem Studium eine Ausbildung zur Krankenschwester gemacht und berichtet von den großen Massen an Stoff, die sie in den letzten sechs Jahren lernen musste: „Vor dem Studium habe ich mich gefragt, ob es etwas Interessanteres geben könnte als das Medizinstudium. Ich lerne und verstehe ganz genau, was im menschlichen – das heißt auch in meinem Körper – von Statten geht. Dann, was alles daran kaputt gehen kann und zum Schluss, wie ich es repariere. Als es mit Anatomie los ging, habe ich schon gemerkt, dass es mit den interessanten Fakten wohl nicht direkt losgeht. Klar fand ich es spannend, den Aufbau des Körpers kennenzulernen, aber jeden Muskel mit Ursprung, Ansatz, Funktion und Innervation zu lernen, soll das sinnvoll sein [...] ? Das fand ich etwas übertrieben. Biochemie fand ich super interessant – am Anfang zumindest! Wieso sollte ich jetzt aber das Zeichnen jeder Strukturformel lernen? Wie kann ich denn damit Leben retten? Und so ging es das ganze Studium weiter, immer wieder war ich geschockt, welche Einzelheiten gelernt werden mussten und in der Klausur abgefragt wurden. Genauso im schriftlichen Hammerexamen: Die seltensten Erkrankung mit den abgefahrensten Namen und davon nicht die Bedeutung, sondern den besonderen Laborbefund, wollten sie wissen.“ Bedeutet das, dass man als Medizinstudent nur unnütze Details lernt? Das hört sich nicht sehr vielversprechend an... „Nur interessante Dinge lernen, das war wohl ein Traum. Aber das ist in jedem Studiengang so. Und verglichen mit anderen Studiengängen haben wir es wahrscheinlich noch gut, da wir vieles sehr praxisbezogen angegangen sind. Aber man denkt zu Anfang auch immer, dass man das Ganze niemals schaffen würde. Vor jeder Klausur kommen einem die Unmengen an Stoff unbewältigbar vor und immer wieder hat man es doch geschafft, sich noch mehr in das Gedächtnis zu stopfen. Ebenfalls eine Vorstellung, die sich, in diesem Falle glücklicherweise, nicht bestätigt hat. [...] Natürlich war es anstrengend, aber wenn ich im OP stehe, weiß ich, dass es sich gelohnt hat.“
Karin hat gelernt, dass Ärzte keine Götter sind, Anna das wahre Leben einiger Menschen und traurige Wahrheiten erfahren und Lana wird in Zukunft vielleicht versuchen, den Patienten zu zeigen, dass sie Ärzten mehr vertrauen dürfen, als dem Internet. Wenn Paul sich nicht an die Arztbriefe gewöhnen kann, wird er eben doch Anästhesist und Tina wird vielleicht doch mehr Detailwissen anwenden können, als sie erwartet. Alle haben sie eines gemeinsam. Sie haben zwar einige Ideale ablegen müssen und wurden zwischendurch enttäuscht, aber keiner von ihnen hat sich davon abbringen oder demotivieren lassen, Arzt zu werden. Auch wenn es nicht perfekt sein wird und anders als erwartet, sie sind nun immerhin darauf eingestellt.