Schon vor zwei Jahrzehnten sprachen AIDS-Forscher von der Möglichkeit, die Krankheit zu heilen und das HI-Virus auszurotten. Neue Hemmstoffe und Strategien scheinen nach viel Frust wieder Hoffnung auf ein Ende der Seuche zu wecken. Sind die Erwartungen berechtigt?
Manchmal könnte man meinen, in Deutschland spiele das Thema keine große Rolle mehr. Und wenn, dann allenfalls beim Geschlechtsverkehr zwischen Männern. Tatsächlich stecken sich bei uns noch immer jährlich rund 2.500 Menschen mit dem HI-Virus an. Die Zahl der infizierten homosexuellen Männer steigt. Dennoch taucht die Krankheit nur mehr ab und zu in der Liste wichtiger Gesundheitsthemen auf. AIDS ist bei uns schon lange kein Urteil mehr über einen frühen Tod. Erfolgreiche antiretrovirale Therapie verlängert das Leben eines Infizierten fast bis auf den „Normalwert“.
Und dennoch nehmen auch optimistische HIV-Experten das Wort „Heilung“ nur ungern und mit vorsichtiger Umschreibung in den Mund. Denn ein effektives Mittel, das Virus für ein und alle Mal aus dem Körper zu vertreiben, gibt es bisher nicht. Auch wenn weltweit rund 15 klinische Studien angemeldet sind, die eine „Heilung“ zum Ziel haben und eine Impfstoff-Studie in Thailand einen Rückgang der Infektionen um rund ein Drittel erbracht hat: Die Zahl der Fälle, in denen das Virus den Menschen vor dessen Tod verlassen hat, beschränkt sich auf einige wenige Ausnahmen. Vor diesem Hintergrund fand vor einigen Wochen in San Francisco eine große Konferenz statt, auf der Experten über das Thema diskutierten: „Was brauchen wir für eine Welt ohne AIDS?“
In den letzten Monaten tauchten immer wieder Artikel in der Fachliteratur auf, die tatsächlich von einer Möglichkeit sprachen, alle HI-Viren, die sich einmal im Körper niedergelassen hatten, auch wieder loszuwerden oder sie dort trotz hohem Infektionsrisiko gar nicht erst zur Vermehrung kommen zu lassen. Da war von neuen Antikörpern die Rede, die das Virus möglicherweise auch im latenten (Ruhe-)zustand neutralisieren könnten. Allerdings auch von einem Reservoir an nicht aktiven Viren, das wohl viel größer als angenommen sei. Das zeigte etwa eine Untersuchung, die Robert Siliciano und seine Kollegen von der Johns Hopkins Medical School in Baltimore kürzlich in „Cell“ veröffentlichten. Nach den bisherigen Methoden lassen sich in T-Lymphozyten etwa ein Prozent jener Viren aktivieren, die ihr Erbgut in das Genom ihres Wirts eingebaut haben. Diese Viren schaffen es in die aktive Fortpflanzungsphase. Der Rest, so nahm man bisher an, wäre aufgrund seiner DNA-Defekte nicht dazu in der Lage. Eine falsche Annahme, wie sich jetzt herausstellt. Denn rund zwölf Prozent des integrierten Virusgenoms ist anscheinend intakt. Mit ein bisschen molekulargenetischer Nachhilfe konnten es die Forscher wieder zu vermehrungsfähigen Viren zusammenbasteln. Das bedeutet, dass bis zu 60 Mal so viele schlafende aber kompetente Viren den bisherigen antiretroviralen Behandlungen anscheinend entgehen.
Ein anderes Ergebnis zweier Arbeitsgruppen aus Harvard und Bethesda stimmt dagegen optimistischer. Denn offensichtlich wirken neue Antikörper-Cocktails viel besser als bisher. Das zeigen Versuche an infizierten Makakenaffen, die einen Hybridvirus von SIV (Simian Inmmunodeficeincy Virus) und HIV im Blut hatten. Die Antikörper holten die Viren nicht nur schnell aus dem Kreislauf, sondern sorgten auch für dauerhafte Virenfreiheit für mehrere Monate, solange der Antikörperspiegel gleichmäßig hoch war. Mutationen an den Angriffspunkten der Wirkstoffe, eine bisher sehr erfolgreiche Abwehrstrategie der Mikroben, tauchten in den beiden Untersuchungen nicht auf. Vielmehr war der Virentiter nach dem Abschluss der Behandlung deutlich niedriger als vor Beginn. Was aber die neue Therapieoption besonders interessant macht: Auch die Menge an zellassoziierter HIV-DNA, also Viren, die in der Wirtszelle auf ihren Einsatz warten, ging zurück.
„Die Ergebnisse der beiden Veröffentlichungen könnten trotz aller Vorsicht die Bemühungen um eine Heilung von AIDS revolutionieren.“ Diese mutige Prophezeiung stammt von Louis Picker und Steven Deeks aus einem Begleitkommentar zu den beiden Forschungsberichten in „Nature“. Schon seit einigen Jahren geistern Berichte über diese neuen effektiven Antikörper durch die AIDS-Fachliteratur: Bei etwa jeder fünften Infektion produziert der HIV-Träger Antikörper mit neutralisierenden Eigenschaften, zumeist allerdings erst nach zwei bis vier Jahren. In der Zeit zuvor liefern sich Virus und Immunsystem ein Wettrennen. Während sich die Virushülle unter dem Dauerangriff des Wirts ständig verändert, treibt das auch die Abwehr an, Immunglobuline mit immer größerer Passgenauigkeit für die aktuellen Antigene zu entwickeln. Nur eine Handvoll der bisher isolierten neutralisierenden Antikörper können jedoch die eine Infektion in Schach halten. Und auch sie wirken auch nicht gegen alle bekannten HIV-Stämme, sondern nur gegen etwa 70 Prozent der bisher bekannten 162. Der Virusblock bei Makaken gelang mit einem Cocktail solcher Antikörper. Nachdem auch Versuche mit kleineren Tieren erfolgreich verliefen, sollen in Kürze erste humane Studien folgen. Zuerst ist dabei an eine präventive Impfung gedacht. Entsprechende Injektionen sollen Neugeborene vor dem Virus ihrer infizierten Mutter schützen und Erwachsene, die in ihrer Umgebung einem großen Ansteckungsrisiko ausgesetzt sind.
Fragt man Fachleute, wie eine zukünftige erfolgreiche AIDS-Therapie aussehen könnte, so sprechen sich die meisten für eine Kombination von „traditioneller“ antiretroviraler Behandlung und dem Einsatz der neuen Antikörper-Generation aus. Die Schwäche der bisherigen Möglichkeiten lag vor allem im Zugang zum latenten Virusreservoir. Während der Angriff auf die Keime während ihrer Vermehrung und Ausbreitung recht erfolgreich ist, stellen die entlegenen Verstecke intakter, aber nicht aktiver Viren ein großes Problem dar. Das, so hoffen die meisten Experten, können die neutralisierenden Antikörpern besser als bisherige Wirkstoffe lösen.
Ende November publizierte schließlich „Immunity“ die Ergebnisse einer französischen Arbeitsgruppe, die weitere Hinweise für den Zugang zu latenten Viren liefert. Von den zwei großen HIV-Typen vermehrt sich nur der weniger pathogene Typ-2 in dendritischen Zellen, während HIV-1 der Spürnase dieser Abwehrzellen entkommt und sich allein den T-Zellen widmet. Im Capsid von Typ 1 scheint jener Schlüssel zu fehlen, den die dendritischen Zellen für die Aktivierung der Abwehr gegen HIV benötigen. Mit einigen Veränderungen an der Hülle von Typ 1 reagiert das Immunsystem mit einer effektiven Antwort - übrigens auch dann, wenn es zu einer Mischinfektion von Typ-1 und Typ-2 kommt. Auch mit diesem Wissen hoffen die Forscher auf neue Wirkstoffe, um auch gegen Typ-1 Viren eine erfolgreiche Abwehr zu generieren.
Generell, so waren sich die Fachleute auf der „AIDS-free World“ Konferenz in San-Francisco einig, braucht es jedoch nicht nur neue Erkenntnisse über die Schwachstellen und Angriffspunkte des Virus an sich, sondern auch die Entwicklung einer geeigneten Therapie im großen Maßstab, die nicht nur erfolgreich das Virus bekämpft, sondern auch für Millionen von Betroffenen besonders in Afrika und Asien zugänglich ist. Dazu kommen auch ganz einfache Maßnahmen wie Routine-Tests auf eine Infektion oder die Beschneidung von Männern als vorbeugende Maßnahme, wie Kongresspräsident Anthony Fauci vom National Institute of Allergy and Infectious Diseases erläuterte. Schließlich, so Fauci weiter, müsse man verhindern, dass sich Kleinkinder bei ihren Müttern anstecken. „Biomedizinische Eingriffe müssen mit menschlichem Verhalten und sozialen Komponenten einhergehen, um eine AIDS-freie Welt zu schaffen.“
Vor einigen Jahren heilten Berliner Ärzte einen HIV-infizierten Lymphom-Patienten mit einer Knochenmarktransplantation. Das Genom des Spenders war auf beiden Chromosomen an der Andockstelle für HIV, dem CCR5-Rezeptor, mutiert. Auch in Frankreich scheint eine sehr früh begonnenen antiretrovirale Behandlung zu einem so niedrigen Virentiter zu führen, dass sich der Körper über viele Jahre hinweg auch ohne Medikamente gegen den Eindringling wehren kann. Weltweit sind rund 35 Millionen Menschen mit dem Virus infiziert, rund jeder Zwanzigste davon stirbt jedes Jahr. Zu viele Menschen, um das Engagement um eine Heilung der Krankheit zurückzufahren, nur weil Europa eine der weniger stark betroffenen Regionen ist. Nach vielen Jahren, in denen die Medien regelmäßig über fehlgeschlagene Studien im Kampf gegen die Seuche AIDS berichteten, machen die neuesten Meldungen zumindest wieder etwas Mut.