Forschungsergebnissen zufolge besteht ein Zusammenhang zwischen Darmbakterien und Multipler Sklerose. Eine amerikanische Ärztin, selbst an MS erkrankt, setzt auf eine spezielle Ernährung, die der Paleo-Diät ähnelt. Ihr Selbstversuch wird nun in einer klinischen Studie erprobt.
Multiple Sklerose (MS) ist eine Autoimmunerkrankung. Hier greifen fehlgeleitete Zellen des Immunsystems körpereigne Zellen im Gehirn und Rückenmark an. Der von autoaggressiven T-Zellen ausgelöste Angriff schädigt die betroffenen Nervenzellen und führt zum Abbau ihrer Hüllschicht. Zellen sterben ab und Nervenreize werden nicht mehr korrekt weitergegeben. Ob ein Mensch an MS erkrankt, hängt sowohl von genetischen Faktoren als auch von Umwelteinflüssen ab.
„Wir kennen mittlerweile mehr als 200 Gene, die den Menschen für eine MS-Erkrankung empfänglich machen“, erklärt Hartmut Wekerle vom Max-Planck-Institut für Neurobiologie in Martinsried. „Damit es zum Ausbruch kommt, braucht es jedoch einen Auslöser, der bisher im Umfeld von Infektionen gesucht wurde.“ Als krankheitsauslösende Umweltfaktoren wurden bereits Rauchen, wenig Sonnenlicht und eine Infektion mit dem Eppstein-Barr-Virus identifiziert. Mit dem Aufkommen moderner DNA-Sequenzierungsmethoden diskutierten Wissenschaftler auch erstmals die Beteiligung der Darmflora am Ausbruch von MS. „Das Ganze wächst im Moment so rasant, dass ich absolut sicher bin, dass wir den Darm nicht mehr ignorieren können, wenn es um die Therapie von Erkrankungen geht“, so Prof. Aiden Haghikia, Neurologe am St.-Jospeh Hospital der Ruhr-Universität in Bochum.
Bereits im Jahr 2011 konnte Wekerle mit seinen Kollegen einen Zusammenhang zwischen Darmflora und MS nachweisen. Dazu untersuchten sie Mäuse, die genetisch so verändert waren, dass sie im Laufe ihres Lebens über eine T-Zell-Aktivierung spontan an einem MS-ähnlichen Leiden erkrankten. Wurden die Mäuse jedoch unter keimfreien Bedingungen gehalten, erkrankte keines der genetisch veränderten Tiere. Im Gegensatz dazu erkrankten Mäuse, die mit einer normalen Darmflora aufwuchsen innerhalb von drei bis acht Monaten. Als Auslöser kam also nur die Darmflora in Frage. Daraufhin analysierten zahlreiche Forschergruppen die Unterschiede in der bakteriellen Zusammensetzung von Gesunden und MS-Kranken – mit mäßigem Erfolg: „Die genetische Diversität dieser Menschen und ihrer Darmflora machte es sehr schwer, konkrete Schlüsse aus den Ergebnissen zu ziehen“, so Wekerle. „Zudem sagt das Vorhandensein eines bestimmten Mikroorganismus bei MS-Patienten noch nichts darüber aus, ob dieser tatsächlich eine Funktion bei der Krankheitsentwicklung übernimmt. Das kann nur mit Hilfe von Tierversuchen geklärt werden.“
Zwillingsstudien zeigen, dass die natürliche Darmflora darauf Einfluss hat, ob ein Mensch an Multipler Sklerose erkrankt (links). Eine zentrale Rolle spielen hierbei T-Zellen (blau).© MPI f. Biochemie/ Menzfeld Den Forschern um Wekerle ist es kürzlich in einer weiteren Studie gelungen, die Beteiligung der Darmflora an der Entstehung von MS nachzuweisen. Dazu nutzten sie Stuhlproben von mehr als 50 eineiigen Zwillingen, von denen jeweils ein Zwilling an MS erkrankt war, der andere nicht. Bei genetisch identischen Zwillingen kann der Einfluss der menschlichen Gene auf die Darmflora bei den paarweisen Vergleichen vernachlässigt werden. Beim Vergleich der Darmmikrobiota der Zwillinge fanden die Forscher einige interessante, wenn auch subtile Unterschiede. So waren beispielsweise Bakterien der Art Akkermansia bei den Zwillingen mit MS häufig reduziert. „Richtig spannend wurde es jedoch, als wir die keimfrei gehaltenen, genetisch veränderten Mäuse mit den jeweiligen menschlichen Mikrobiomen impften“, berichtet Guru Krishnamoorthy, ebenfalls vom Max-Planck-Institut für Neurobiologie in Martinsried. Tiere, die Darmfloraproben der MS-kranken Zwillinge bekamen, erkrankten zu fast hundert Prozent an der MS-ähnlichen Hirnentzündung. Die Untersuchungen bestätigten erstmals, dass Bestandteile der Darmflora von MS-Patienten eine funktionelle Rolle bei der T-Zellaktivierung spielen und somit ein Auslöser für die Multiple Sklerose beim Menschen sein können.
„Für ein gut funktionierendes Gehirn brauchen Sie ein intaktes Darmsystem, denn der Darm nährt das Gehirn“, weiß auch Prof. Marco Prinz, Neuropathologe am Uni-Klinikum Freiburg. Seine Untersuchungen an Mäusen haben gezeigt: Ohne Darmbakterien verändert sich das Immunsystem der Tiere dramatisch. Die Forscher des Universitätsklinikums Freiburg haben die Immunabwehr des Gehirns genau untersucht. Das Fazit: Die Immunzellen im Gehirn funktionieren nur dann, wenn die Darmbakterien sie mit bestimmten Substanzen füttern. „Ohne kurzkettige Fettsäuren verkümmern die Immunzellen, die Mikroglia, des Gehirns regelrecht“, so Prinz im NDR Beitrag „Visite“. https://youtu.be/tenIkEkDZkk
Darmbakterien stellen aus gesunder Nahrung unter anderem kurzkettige Fettsäuren her, wie Beispielsweise Propionsäure. Wurden Mäuse, die an einer MS-ähnlichen Erkrankung litten, mit Propionsäure über ihr Trinkwasser gefüttert, erholte sich das Immunsystem im Gehirn der Mäuse. Dass dieser Versuch so eindeutig ausfiel, überraschte Prof. Prinz und seine Kollegen.
Ärzte am Bochumer St-Jospeph-Hospital haben daraufhin untersucht, ob sich diese erstaunlichen Versuchsergebnisse auch auf den Menschen übertragen lassen. Denn die Analyse von Patienten mit MS zeigte: Neben den Veränderungen im Gehirn, gibt es auch Veränderungen im Darm. „Das Darmmikrobiom ist bei MS-Patienten anders zusammengesetzt“, so Haghikia. Auffallend sei vor allem die reduzierte Artenvielfalt im Darm von MS-Kranken. Ein gesunder Mensch beherbergt etwa 160 Bakterienarten, ein MS-Kranker deutlich weniger. Das wiederum wirkt sich offenbar auf die Fettsäurenproduktion aus. Die lässt sich direkt nachweisen: MS-Kranke haben in ihrem Blut weniger Propionsäure als Gesunde. In einem Interview mit dem NDR berichtete Haghikia davon, wie seine MS-Patienten von der Propionsäuresupplementation profitieren: „Viele fühlen sich nach kurzes Zeit kraftvoller, die Müdigkeit und Abgeschlagenheit lässt nach. Auch die Infektanfälligkeit verbessert sich.“ Blutanalysen der Patienten bestätigten: Die Einnahme von Propionsäure verbesserte die Anzahl von Immunzellen um 30 Prozent. Die Anzahl von Entzündungszellen hingegen nahm ab, bei manchen Patienten sogar um die Hälfte.
Gefahren durch die Einnahme von Propionsäure sieht Prof. Ralf Gold, ebenfalls Neurologe am St.-Joseph-Hospital in Bochum, nicht. „Die Freigabe der europäischen Ernährungsbehörde EFSA liegt 200-fach höher als die Konzentration, die wir als sinnvoll erforscht haben.“ Im Moment gibt es noch keine klinischen Daten zur Wirksamkeit von Propionsäure bei MS. Haghikia rät seinen Patienten daher, Propionsäure parallel zur gewohnten MS-Medikation einzunehmen und einfach auszuprobieren, ob es wirkt.
Die Herstellung von Propionsäure im Darm lässt sich, sofern die entsprechenden Bakterien dort vorhanden sind, auch mit der richtigen Ernährung fördern. Um die Propionsäurebildung im Darm anzuregen, sollte man möglichst viel pflanzliche Kost zu sich nehmen, so Dr. Matthias Riedel, Ernährungsmediziner in Hamburg. „Darmbakterien stellen aus unlöslichen Ballaststoffen Propionsäure her.“ Unlösliche Ballaststoffe befinden sich beispielsweise in der Schale von Äpfeln, in Kornhülsen oder in Linsen. Auch Nüsse und Pistazien enthalten viele dieser Ballaststoffe.
Für Aufmerksamkeit sorgte auch der TED-Talk einer US-amerikanischen, selbst an MS-erkrankten Ärztin, die nach eigenen Angaben durch eine radikale Ernährungsumstellung dem Rollstuhl wieder entfliehen konnte. Nach einer umfangreichen Literaturrecherche stellte sich Dr. Terry Wahls einen Ernährungsplan zusammen, der ihre angeschlagenen Hirnzellen mit allem vorsorgen sollte, was sie benötigen. Dabei setzte die Ärztin auf eine einfache „Tassenmethode“, die an die Paleo-Diät angelehnt ist: Sie aß täglich 3 Tassen an grünblättrigem Gemüse, 3 Tassen an gut durchfärbtem Obst oder Gemüse und 3 Tassen an schwefelhaltigem Gemüse. Dazu Fleisch und Innereien von Weidetieren, Seefisch, Algen und Seegras – alles aus biologischem Anbau und nicht prozessiert. Getreide- und stärkehaltige Nahrungsmittel strich Wahls aus ihrem Speiseplan. Im verbleibenden Gemisch seien ausreichend Vitamine, Mineralstoffe und Co-Enzyme vorhanden, um den Körper zur Selbstheilung anzuregen. Auch bei anderen Autoimmunerkrankungen soll eine solche Ernährungsweise laut Wahls sinnvoll sein. https://www.youtube.com/watch?v=DOIIgqr8csU
Die Ärztin arbeitet inzwischen wieder an der Universität Iowa und will ihren Selbstversuch nun in klinische Studien umsetzen. Eine aktuelle Pilotstudie der Ärztin bringt allerdings etwas Ernüchterung in Wahls Ansatz: Von 20 MS-Kranken mit unterschiedlich schweren motorischen Einschränkungen profitierten nach einem Jahr nur diejenigen von der Paleo-ähnlichen Diät, deren Immobilität zum Beginn der Intervention als schwach bis moderat eingestuft worden war.