Zu Beginn des Semesters fand in Leipzig die erste White Coat Ceremony statt. Dabei wurden 300 Absolventen des Physikums feierlich Klinikkittel verliehen. Doch wird durch dieses angloamerikanische Ritual eine Elite geprägt? Wir führten ein Interview mit dem Medizinsoziologen Dr. Oliver Decker.
Über 2.000 Stunden Lehrveranstaltungen, 4 Semester, 320 MC-Physikumsfragen und 9 Stunden Staatsexamensprüfungen – dann ist es geschafft. Herzlich Willkommen im klinischen Studienabschnitt. Neben Stethoskop, Reflexhammer und Untersuchungslampe benötigen die Studierenden dort auch einen Kittel. Daher veranstaltete die Studierendenvertretung am 22.10.2013 im Anatomiehörsaal die erste Leipziger White Coat Ceremony, die feierliche Übergabe von Klinikkitteln. Zu der Feierlichkeit kamen neben den 300 erfolgreichen Absolventen des Physikums auch der Dekan der medizinischen Fakultät, der Leiter des Uniklinikums und die Rektorin der Uni Leipzig, Frau Prof. Schücking. In ihren Ansprachen mahnten alle drei die Verantwortung und Anspruch an Professionalität an, die ein solcher Kittel mit sich bringe. Doch trotz dieser eindringlichen Warnung an die jungen Kollegen: Ist der Kittel doch ein Element zur Abgrenzung und Elitenförderung? Wir sprachen darüber mit dem Medizinsoziologen Dr. Oliver Decker.
DocCheck: Wann waren Sie das letzte Mal bei einem Arzt? Und hat er einen Kittel getragen? Dr. Oliver Decker: Das weiß ich nicht mehr genau. Es ist schon recht lange her. Aber wenn ich mich recht erinnere, war es kein Kittel, aber doch schon an die übliche Kleidung angelehnt. DocCheck: Was gefällt Ihnen als Patient denn besser? Kittel oder kein Kittel? Decker: Eigentlich ist mir das recht gleich. Mir ist lediglich ein gepflegtes Äußeres wichtig. DocCheck: Drückt für Sie als Patient ein Kittel etwas aus? Decker: Da ich selbst auch Kittel in der Klinik trage, ist dieser für mich vor allem ein Gegenstand, der einen Unterschied und eine bestimmte Funktion markiert. Man grenzt sich damit als Klinikmitarbeiter von externen Personen ab. Eine ganz interessante Erfahrung, wenn man ohne Kittel auf die Station kommt: Es ist sehr viel schwieriger, die Einsicht in Akten oder ähnliches zu nehmen. Der Kittel legitimiert einen als Mitarbeiter. Andererseits findet man auch einen eher innerpsychischen Aspekt: Der Kittel ist eine Art Verteidigungslinie – ein Schutzwall. Er trennt den Ort, an dem die Krankheit sitzt von dem der Gesundheit. Weiter wird durch den Kittel auch eine Art Zugehörigkeit vermittelt. Sowohl für Patienten als auch für andere Kollegen gibt man sich durch den Kittel in der Rolle des Arztes zu erkennen. Das Tragen von Kleidung markiert also die Funktion und grenzt den Bereich ab. Geschichtlich war dies die Abgrenzung des sakralen Bereiches vom profanen. Auch heute werden noch Novizen beim Eintritt ins Kloster auf besondere Art und Weise eingekleidet. Einen ähnlichen Initiationsritus kann man auch bei der White Coat Ceremony erkennen. Diejenigen, die Zugang zum Heiligtum haben, müssen bestimmte Regeln einhalten, wenn sie den Ort betreten. Medizinsoziologe Dr. Oliver Decker © Bild: Tim Vogel
DocCheck: Hat denn Medizin für Sie etwas Göttliches? Decker: Nein, Medizin hat an sich nichts Göttliches. Sie hat allerdings einen Erbteil vom Sakralen erhalten und das in vielen Bereichen, ohne sich selber darüber Rechenschaft abzulegen. Ich bin mir unsicher, ob das Rollenverständnis des „Halbgottes in Weiß“ tatsächlich noch für den einzelnen Arzt zutrifft. Es ist kein Zufall, dass die Studierenden im Grundstudium nicht etwa mit einem Kurs in Selbsterfahrung, sondern mit einem Präparierkurs beginnen. Das ist auch ein Initiationsritual. Die Studierenden dringen in einen Bereich vor, der exklusiv ist und mit Handlungen, die für normale Menschen einen Straftatbestand darstellen würden. Es wird unter dem Blickwinkel eines höheren Guts die Totenruhe verletzt. Meines Erachtens findet bereits hier maßgeblich die Identifikation mit der Berufsgruppe statt, der die Medizinstudierenden eines Tages angehören. Auch als Arzt darf man Dinge tun, die normale Menschen nicht tun dürfen - die körperliche Integrität verletzen oder Drogen verabreichen. Vielen Studierenden fällt dieses Initiationritual alles andere als leicht. Das zeigen die Studien, welche höheren Drogenkonsum in diesem Studienabschnitt nachweisen. Wir sehen hier, was es individuell bedeutet, diese Grenze zu überschreiten und es macht auch deutlich, dass es institutionell von großer Wichtigkeit ist, dieses Ritual zu haben. Ab sofort gehört man zu einem besonderen Kreis von Personen mit besonderen Rechten. Andererseits werden die Belastungen, die damit verbunden sind, eine Rolle, einzig dem Individuum überlassen. Es muss Wege finden, mit diesen umzugehen – das ist ein „heimlicher Lehrplan“, der auf eine Arztrolle vorbereitet, die wohl nicht mehr ganz zeitgemäß ist. DocCheck: Dürfen also Mediziner mehr als andere? Decker: Natürlich nicht in allen Lebensbereichen. Das kann man wohl ziemlich deutlich verneinen. Aber Sie gehören einem besonderen Bereich an, der Sie hervorhebt. Nicht unbedingt als Individuum, aber in der gesellschaftlichen Rolle. Sie dürfen unter dem Blickwinkel der Heilung Körper verletzen und bekommen Zugang zu Medikamenten. Auf diese Sonderrechte werden Medizinstudierende durch Rituale wie den Präparierkurs oder die WCC vorbereitet. DocCheck: Halten sich denn Mediziner für göttlich? Decker: In der Soziologie gibt es ja den Begriff der Rolle. Die Rolle ist etwas, was man nicht selbst bestimmt, sondern was gesellschaftlich hinsichtlich der Funktion festgesetzt wird. Sie eignen sich Rollen an und beginnen sich damit zu identifizieren. Als Rollenträger hat man dann mehr Rechte als andere Individuen und das bleibt Menschen natürlich nicht nur äußerlich.
DocCheck: Inwieweit glauben Sie, werden Medizinstudierende bereits in diese Rolle gedrückt? Decker: Viele Studierende sind über ihre Eltern oder andere Verwandte mit dem Arztberuf identifiziert, bevor sie ihren Studienplatz erhalten. Wenn man Medizin studiert, hat man dafür einen bestimmten Grund. Dieser Grund, dieses Bild von der Medizin, kann dann aber beim einzelnen Individuum durchaus mit dem realen Bild kollidieren. Im Studium erfahren die Studierenden, wer sie sein sollen. Und dann knirscht es. Wenn es aber gut läuft, beginnen die Studierenden diese Erwartungen in Deckung mit der Realität zu bringen und wachsen in die Rolle hinein. DocCheck: Überspitzt formuliert: Sind die Matrikel der medizinischen Fakultäten eine Sammlung von Menschen, die unbedingt besonders sein wollen? Decker: Ja bestimmt. Sie haben ein Studienfach gewählt, welches in einem Beruf endet, der sozial die höchste Anerkennung hat. Sie werden dadurch immer ein hohes gesellschaftliches Prestige erleben. Gleichzeitig gibt es auch eine „interne Wirkung“. Wenn Sie zum Arzt gehen und sagen, dass Sie Medizin studieren, dann sind sie schon, obwohl eigentlich noch Student, ein Kollege. Das ist auch Teil der Aufnahme in diese Kaste. Natürlich paart sich das dann auch mit dem Zwang der Institution. Und irgendwann kommt dann, wie jetzt in Leipzig, der Kittel. Das ist dann das nach außen sichtbare Zeichen, dass Sie eingekleidet und aufgenommen wurden.
DocCheck: Welche Auswirkung hat diese Kastenbildung, Ihrer Meinung nach, auf die Arzt-Patienten-Bedingung? Decker: Die Asymmetrie der Arzt-Patienten-Beziehung wird sich nie vollständig beheben lassen. Sicher gibt es Versuche, die unter einer Art Vorzeichen von Liberalisierung stehen und den Patienten stärken. Aber dennoch ist es falsch, von einer gleichberechtigten Nachfrage-Anbieter-Beziehung wie in Dienstleitungssektoren auszugehen. Das ist Unfug. Der Arzt hat nicht nur aufgrund seines Studiums einen enormen Wissensvorsprung, sondern der Patient kommt auch in einer Sondersituation zum Arzt - er ist nämlich krank. Das engt das idealistische Bild einer Anbieter-Nachfrage-Beziehung doch stark ein. Und so ist es gut, dass es eine Abgrenzung und eine Sonderposition des Arztes in dieser Beziehung gibt, die auch sichtbar gemacht wird. Ob nun durch Kleidung oder Rituale. DocCheck: Was glauben Sie, bedeutet der Kittel für den Arzt? Könnte man ihm den Kittel einfach so wegnehmen? Decker: Ich denke, dass man ihm den Kittel vielleicht wegnehmen kann, aber wie eingangs erwähnt, bietet er natürlich auch Schutz und symbolisiert eine Grenze. Außerdem hat der Arzt durch den Kittel die Möglichkeit, sich als Person von seinem Beruf abzugrenzen. DocCheck: Also brauchen Ärzte den Kittel? Oder ist man ein schwacher Arzt, wenn man einen Kittel braucht, um sich zu schützen? Decker: Nein, um Gottes Willen. Es ist ein sehr belastender Beruf und selbst Schwäche ist kein Makel. Ich denke, viele könnten auf den Kittel verzichten. Dennoch ist er ja zurzeit Gegenstand vieler Rituale. Wenn man diesen Gegenstand aufgibt, bedeutet das natürlich auch, dass man etwas, was vorher eine Funktion gehabt hat, aufgibt. Das geht bestimmt, aber es geht einher mit anderen Veränderungen, die die Aufgabe des Kittels ermöglichen und auf sie folgen. Die Frage ist allerdings, ob man das überhaupt will. Besser wäre es, sich der Wirkung des Kittels bewusst zu werden und diese dann sinnvoll einzusetzen. So wie ein Richter in seiner Funktion als Richter einen Talar trägt, so sollte es der Mediziner auch mit dem Kittel handhaben. Außerhalb seiner gesellschaftlichen Funktion braucht er den Kittel nicht. Heute fällte diese Trennung den Ärzten vielleicht leichter. Während vor 100 Jahren ein Arzt noch rund um die Uhr Arzt war, gibt es heute mehr oder weniger geregelte Arbeitszeiten, in denen der Arzt seine gesellschaftliche Funktion wahrnimmt.
DocCheck: Ist es fair, dass man als Medizinstudent eigentlich kaum Chancen hat, nicht zu dieser Kaste zu gehören? Decker: Wahrscheinlich müsste man erst einmal verstehen, warum so etwas passiert. Natürlich ist es nie fair, wenn Zwang ausgeübt wird. Aus meiner Sicht passiert das, weil der Arzt, ähnlich wie Juristen oder Lehrer, eine systemerhaltende Funktion hat. Das Medizinstudium wird nicht ohne Grund durch ein Staatsexamen abgeschlossen. Das macht sichtbar, dass es hier um einen sehr zentralen Bereich bei der Organisation von Gesellschaft geht. Ärzte und Ärztinnen als Teil des Medizinsystems üben in ihrer Rolle Macht beziehungsweise Herrschaft aus. Der Staat reguliert diese Herrschaft. Und dass der Korridor, auf dem sie sich später bewegen können, sehr eng ist, das wird ihnen bereits früh vermittelt. DocCheck: Kann man diese Medizinerkaste also als Qualitätsmanagementsystem verstehen? Decker: Das wäre zwar eine wenig analytische Ausdrucksweise, aber auf diesem Weg wird die Struktur sichergestellt. Darüber hinaus handelt es dabei um die Verankerung von Konformität. Der Staat braucht keine Ärzte, die von ihrer Rolle abweichen. DocCheck: Verliert man durch Konformität nicht die Möglichkeit auf Fortschritt? Decker: Offensichtlich nicht. Abgesehen davon, muss man sich fragen, was Fortschritt bedeutet. Das, was die Gesellschaft an Fortschritt benötigt, scheint sie ja zu produzieren. Ich würde allerdings kritisieren, dass dort viel instrumentelle Vernunft dabei ist.
DocCheck: Lassen Sie uns noch einmal auf die White Coat Ceremony zurückkommen. Glauben Sie, dass bei der Veranstaltung eine Elite geprägt oder eher den Studierenden ihre Verantwortung bewusst gemacht wurde? Decker: Diese Gegenüberstellung, die Sie aufmachen, ist wahrscheinlich gar keine. Ich denke, es fällt zusammen. Natürlich befördert es die Identifikation mit einer Gruppe, deren Regeln und Normen man beim Eintritt anerkennt. Damit hängt auch in gewisser Weise eine Aufgabe von Individualität zusammen. Stellen des eigenen Ichs ersetzt man durch Gruppenidentifikation, manchmal auch auf Kosten von Realitätswahrnehmung. Aufgrund meiner eigenen Biographie finde ich solche Rituale immer problematisch. Ich mag es, wenn Menschen für Ihre Leistungen wertgeschätzt werden und solche wichtigen Ereignisse markiert werden. Aber die Veranstaltung hat auch die Wirkung, dass man der Gruppe gegenüber, in die man gerade eintritt, unkritischer wird. Es ist natürlich nicht schlimm, wenn man sich mit einer Gruppe identifiziert. In der Medizin verdichtet sich aber sehr viel von dem, was Gesellschaft bedeutet. Unter demokratischen Bedingungen ist das unproblematisch. Die Frage ist aber, wie viel Reflexionsvermögen für weniger demokratische Verhältnisse verbleibt. Der Arzt befindet sich in einem ständigen Spannungsverhältnis: Zum einen muss er das Beste für seinen individuellen Patienten tun, gleichzeitig hat er aber auch eine gesellschaftliche Funktion zu erfüllen. Das kann kollidieren. Individuum und Gesellschaft haben manchmal unterschiedliche Interessen. Ich sehe auch heute in der Gegenwart die Gefahr, dass die Vernunft der Gesellschaft gegenüber den Wünschen und Bedürfnissen von Individuen durchgesetzt wird. Die Medizin ist ein System zur Kontrolle von Abweichungen und personifiziert sich durch Ärztinnen und Ärzte. Und das ist ein Problem, dass sich nicht umstandslos aus der Welt schaffen lässt. Jeder Arzt und jede Ärztin muss hinterfragen, nach welcher Logik er oder sie handelt. Und darin sehe ich die eventuelle Gefahr von solchen Veranstaltungen: Dass die Fähigkeit zur Reflexion verloren geht. Dass statt Empathie und Anerkennung des Einzelnen Gruppennormen zählen.
DocCheck: Was sehen Sie als größten Vorteil der Veranstaltung? Decker: Es ist eine Wertschätzung der Leistung der Studierenden. Ich finde es gut, dass es sichtbar gemacht und gewürdigt wird. DocCheck: Soll die Veranstaltung im nächsten Jahr wieder stattfinden? Decker: Meine traditionelle Meinung hierzu: Ich bin als Kritiker immer nur mit der Analyse und nicht mit Alternativen befasst (lacht). Wenn die Studierenden grundsätzlich mit der Veranstaltung zufrieden waren, würde ich eine erneute Durchführung empfehlen.
Wir können uns also nicht lossagen von der Wirkung dieses leuchtend weißen Arbeitsschutzes. Ein Kittel bringt eine Grenze zwischen uns und die Patienten und zwischen uns und unseren Beruf. Das ist gut und richtig. Diese Grenze brauchen Ärzte, um einen fordernden Job jeden Tag aufs Neue gut zu erledigen. Er gibt dem Arzt in seiner Rolle besondere Rechte. Nicht aber dem Menschen, der in dem Kittel steckt. Insofern ist die Abkehr vom Bild des „Halbgottes in Weiß“ zu begrüßen. Letztendlich hängt es am Einzelnen, welches Verhältnis er zu seinem Kittel entwickelt. Ein bewusster Einsatz dieses Kleidungsstücks ist wünschenswert und kann die positiven Aspekte hervorheben. Wer allerdings schon als Student nur mit Fachinhalten überschüttet wurde, verlernt die nötige Reflektion und zieht sich am Ende, ganz ohne Spiegel, den Kittel falschherum an.