Bei Tierversuchen wird häufig geschlampt. Zu wenige Tiere, um Ergebnisse jenseits des Zufallsbefunds abzusichern und zu viele positive Resultate, die dem Forscher eine leichtere Publikation ermöglichen, aber schlechte Voraussetzungen für den klinischen Test sind.
Wenn ein Wirkstoff nach jahrelanger Entwicklungszeit in klinischen Studien beim Menschen versagt, ist das für die Firma ein Millionen-Verlustgeschäft. Bei kleineren Herstellern steht dann oft auch die Existenz auf dem Spiel. Dabei halten neun von zehn Wirkstoffe in den letzten Tests vor der Zulassung nicht das, was sie in der präklinischen Entwicklungsarbeit versprechen. Zwei scheitern an unerwünschten Nebenwirkungen, vier haben nicht die erhoffte Wirkung.
Contergan ist wohl das bekannteste Beispiel, bei dem alle Ergebnisse vor dem Einsatz am Patienten die Ampeln auf Grün schalteten, bevor es zum fürchterlichen Crash kam. Die Liste ließe sich mit Lipobay und Vioxx fortsetzen, oder dem beinahe tödlichen Ausgang beim ersten Human-Einsatz des Autoimmun-Wirkstoffs TGN1412. „Seit Jahrzehnten können wir Krebs an Mäusen heilen“, sagt Richard Klausner, ehemaliger Direktor des amerikanischen Krebsforschungszentrums. Für Gegner von Tierversuchen sind die Versager in der Klinik die besten Argumente dafür, dass sich Mäuse und Ratten nicht als Versuchskaninchen in der Medizin eignen. In einigen Fällen haben sie wohl recht. Die Alzheimer-Modell-Maus produziert Ablagerungen, die denen im humanen Gehirn ähneln, der typische Gedächtnisverlust des alternden Menschen mit der Krankheit bleibt bei den Nagern aber aus.
Inzwischen sind viele Experten für Versuchstierkunde jedoch der Meinung, dass man ganz woanders suchen muss, will man die Gründe für das Versagen einer neuen Therapie im Endstadium der Entwicklung aufspüren. Hanno Würbel, der die Abteilung Tierschutz an der Universität Bern leitet, macht die mangelnde Sorgfalt bei Tierversuchen für nicht reproduzierbare Ergebnisse verantwortlich. „Es ist erschütternd, wie da zum Teil geschludert wird.“ Die strengen Maßstäbe für das Design von Studien am Menschen scheinen für die Arbeit mit Vierbeinern und Vögeln nicht zu gelten. In mehreren Analysen von Tierversuchen und entsprechenden Publikationen stellte sich etwa heraus, dass mehr als 85 Prozent der Experimente nicht verblindet waren. Die Forscher wussten beispielsweise bei der Analyse, ob das Tier ein Placebo oder die Prüfsubstanz bekommen hatte. Mehr als drei Millionen Versuchstiere dienten der Forschung in Deutschland im Jahr 2012, die Mehrzahl davon im medizinischen Dienst. Fast 90 Prozent davon sind Ratten und Mäuse. Besonders transgene Tiere sind bei Krankheitsmodellen in der Grundlagenforschung begehrt, sodass sich trotz sinkender Zahlen in der Toxikologie und der Medikamentenentwicklung der gesamte Umfang an Tierexperimenten nicht verringert hat.
„Qualitativ gute Mausstudien sind aufwändig und teuer“, begründet Matthias Jucker von der Universität Tübingen die mangelnde Verlässlichkeit von Experimenten mit Labortieren. Das fängt schon bei der Auswahl der Tiere und ihren Haltungsbedingungen an. Da werden junge Mäuse zu Modelltieren für Wirkstoffe, die Apotheker später multimorbiden Senioren verkaufen sollen. Weibliche Mäuse sind wegen Hormonzyklusschwankungen unbeliebt, die das Versuchsergebnis beeinträchtigen könnten. Wichtig für standardisierte Bedingungen sind schließlich ein einheitlicher genetischer Hintergrund, einheitliche Umgebung und das entsprechende Futter - Bedingungen, die beim Menschen kaum zutreffen. „Durch eine Heterogenisierung der Umweltbedingungen“, davon ist Versuchstier-Experte Würbel überzeugt, „ließen sich die Früherkennung wirkungsloser Substanzen erleichtern und Medikamentenpreise erheblich senken.“
Nur wenige Forscher suchen ihre Tiere wie bei klinischen Studien nach dem Zufallsprinzip aus und trennen die experimentellen Prozeduren von der Zuordnung der Tiere zu entsprechenden Käfigen. Schließlich zwingen Geldmangel und falsch verstandene Tierschutzprinzipien die Wissenschaftler dazu, mit der kleinstmöglichen Anzahl der Tiere zu arbeiten. Was auf den ersten Blick vernünftig klingt, hat dann aber bedenkliche Konsequenzen: Denn nicht selten sind die erhaltenen Resultate dem Zufall näher als einer statistischen Sicherheit. Experimente werden nicht wiederholt, wenn das Ergebnis nur ungefähr den Erwartungen entspricht. Kein Wunder, dass die Erkenntnisse aus diesen Klein-Studien oft auf tönernen Füßen stehen und zuweilen sogar zu einem höheren Verbrauch an Tieren führen, wenn andere Forschergruppen oft vergeblich versuchen, die Experimente zu reproduzieren. Schließlich gibt es bei Tierversuchen kaum Vorschriften, wie Forscher mit den experimentellen Daten umzugehen haben. Auch hier führt der Druck zur Publikation nicht selten dazu, dass nur die passenden positiven Ergebnisse den Weg in das Paper finden. Unerwartete Nebenwirkungen bei den Versuchstieren führen zum Ausschluss aus der Versuchsreihe, ohne dass jemand ausserhalb des Labors etwas erfährt.
Um an dieser Praxis etwas zu ändern, gibt es inzwischen Initiativen und Leitlinien zu Studien mit Versuchstieren. Über 300 Fachzeitschriften fordern für die eingereichten Manuskripte die britischen ARRIVE-Regeln ein. Sie fordern den Forscher auf, transparent über alle seine Versuche, Versuchsziele und Verlauf der Experimente zu berichten. Auch die Unterzeichner der „Basler Deklaration“ verpflichten sich zu den 3R-Prinzip von „Reduce, Replace, Refine“, der Verringerung und Verbesserung von Tierversuchen sowie dem Ziel, sie womöglich durch andere Tests zu ersetzen. Diese Ziele bei Tierversuchen hatten die Engländer William Russell und Rex Burch bereits vor 55 Jahren formuliert. Die größtmögliche Transparenz gegenüber der Öffentlichkeit bei notwendigen Tierversuchen gehört ebenfalls zu den Zielen des Dokuments von Basel vom November 2010. Dazu zählt etwa, Journalisten Zugang zu den Labors zu ermöglichen und auch auf ethische Standards bei der Haltung der Tiere und bei den Versuchen mit ihnen zu achten. Tierexperimente sollten nur da ihren Platz haben, wo es keine Alternativen gibt und die Tiere keine unnötigen Schmerzen erleiden müssen. Diese Forderungen sind auch in den Regelungen der EU zum Tierschutz enthalten. Besonders bei gentechnisch veränderten Tieren wollen die Forscher mit Hinblick auf ihre Verpflichtung in der Konvention die Interessen von Patienten gegen ihre Verantwortung für ihre Tiere abwägen.
Die intensive Schulung von Personal ist ein wichtiger Teil des Tierschutz- und -nutz-Konzepts. An den tierärztlichen Hochschulen würden etwa keine Experten für Versuchstierkunde mehr ausgebildet, beklagt Barbara Grune von ZEBET, der Zentralstelle zur Erfassung und Bewertung von Ersatz- und Ergänzungsmethoden zum Tierversuch in Berlin. Ein solcher könnte erkennen, ob eine Maus oder ein Meerschweinchen starke Schmerzen hat und eingeschläfert werden muss. „Wir haben wahrscheinlich in bester Absicht in Deutschland für den Tierschutz die Versuchstierkunde stigmatisiert als etwas Schlechtes", so Grune. „Und das ist meiner Ansicht nach ein bisschen verlogen, weil ein guter Versuchstierkundler Tierschutz macht.“
Seit 2009 sind Tierversuche für die Entwicklung von Kosmetikprodukten in der EU verboten und Schönheitscremes mit zweifelhaften Labortests sind in Europa vom Markt ausgeschlossen. Wer aber nach Alternativen sucht, stößt früher oder später auf Stammzellen. Hier tut sich jedoch ein neues ethisches Dilemma auf. Um Krankheiten zu modellieren und Gewebe im Labor zu produzieren, eignen sich embryonale Stammzellen in besonderer Weise. In vielen Ländern ist jedoch die Arbeit damit verboten oder nur unter strengen Auflagen möglich. Große Hoffnung setzen Forscher daher auf die induzierte pluripotente Stammzellen, die mittelfristig zu einem wichtigen Werkzeug bei Tierversuchs-Alternativen werden könnten. Bei der Suche nach dem Ersatz treibt auch der Druck der öffentlichen Meinung die Forscher an: Etwa ein Drittel der Deutschen lehnt Tests mit Mäusen und Ratten auch im medizinischen Bereich ab, fast doppelt soviele sind es, wenn es um Hunde oder Affen geht. „Medizinische Forschung am Menschen muss den allgemein anerkannten wissenschaftlichen Grundsätzen entsprechen und, sofern angemessen, auf Tierversuchen basieren“, sagt die Helsinki-Deklaration des Weltärztebundes. Dem stimmt etwa auch die ehemalige Tierschutzbeauftragte der Universität Heidelberg, Susanne Bog, zu: „Komplexe Erkrankungen, zum Beispiel entzündliche Prozesse können nicht vollständig in Zellkulturen nachgeahmt werden.“ Schließlich weist Stefan Treue vom Deutschen Primatenzentrum in Göttingen darauf hin wie umstritten das Thema „Versuchstiere“ in der Gesellschaft sei. So würden etwa bei der Jagd in Deutschland mehr Tiere als im Labor getötet, ganz abgesehen von der Nutztier-Verwertung im Lebensmittelbereich. Auch die Vernichtung von Ratten und Mäusen in der Schädlingsbekämpfung sei gesellschaftlich allgemein akzeptiert.
Wenn aber die Entwicklung von neuen Wirkstoffen gegen ernsthafte Krankheiten in Zukunft schneller voran gehen soll, sind neue Studiendesigns dafür eine wichtige Strategie. Dabei kommen auch immer wieder „Ko-klinische Studien“ ins Gespräch, in denen die neuen Substanzen parallel im Tier und im Menschen erprobt werden könnten. Voraussetzung dafür ist aber, dass das Tiermodell den Verhältnissen im Menschen so weit wie möglich ähnelt. Die Deutsche Forschungsgemeinschaft geht nach entsprechenden Studien davon aus, dass sich etwa 70 Prozent der der Wirkungen und Nebenwirkungen beim Menschen durch den Test im Tier vorhersagen lassen. Damit die Aussagekraft der Untersuchungen bei der Grundlagenforschung wie auch der Entwicklung neuer Therapien vor den ersten Versuchen am Menschen steigt, müssen für Versuche am Tier ganz ähnliche Maßstäbe wie für den Test am Menschen gelten. Letztendlich könnten die Firmen sich damit auch einen beträchtlichen Betrag für zweifelhafte Ergebnisse oder Versager bei klinischen Studien sparen. Hätten sich die Forscher bei einem Schlafmittel vor sechzig Jahren schon darum bemüht, den Einsatz beim Menschen im Tierversuch möglichst genau nachzustellen, hätte es die fürchterlichen Wirkungen von Contergan auf Ungeborene vielleicht nie gegeben. Denn Thalidomid offenbart seine teratogene Wirkung nicht bei Ratten und Mäusen. Bei Kaninchen, Meerschweinchen oder Hunden sind jedoch zumindest bei einem Teil der Tiere Entwicklungsstörungen bei trächtigen Tieren sichtbar. Auf diese Tiere verzichteten jedoch die Forscher damals.