Wenn der Patient mit 12 verschiedenen Arzneimitteln die Klinik verlässt, ärgert dies schon mal den Hausarzt. Ein Gesetz für die effiziente Patientenentlassung gibt es bereits. Jetzt soll eine S1-Handlungsempfehlung helfen, Frust und Kosten zu sparen.
Das bereits seit 1.1.1989 geltende Gesetz zur Strukturreform im Gesundheitswesen (Gesundheitsgesetz GRG §135-139) bezieht die Klinikentlassung des Patienten mit ein. Relevant ist besonders §137, in dem Maßnahmen zur Qualitätssicherung in der Medizin verbindlich vorgeschrieben worden sind. Zum anderen heißt es klar im SGB V §11, dass Versicherte Anspruch auf ein Versorgungsmanagement insbesondere zur Lösung von Problemen beim Übergang in die verschiedenen Versorgungsbereiche haben. Die betroffenen Leistungserbringer sorgen für eine sachgerechte Anschlussversorgung des Versicherten und übermitteln sich gegenseitig die erforderlichen Informationen.
Im Jahr 2006 wurde im Rahmen des Arzneimittelversorgungs-Wirtschaftlichkeitsgesetzes (AVWG) beschlossen, dass bei der Entlassung von Patienten Arzneimittel verordnet werden sollen, „die auch bei der Verschreibung in der vertragsärztlichen Versorgung zweckmäßig und wirtschaftlich sind“. Der Regelungszweck der Norm (§115 c SGB V) wird jedoch nicht flächendeckend und auf hohem Standard angewendet. Die Kassenärztliche Bundesvereinigung (KBV) teilte dem Bundesgesundheitsministerium auf Anfrage mit, dass es „weiterhin erhebliche Probleme“ mit der Entlassungsmedikation gebe. Patienten würden in stationärer Behandlung noch oft auf unzweckmäßige oder unwirtschaftliche Arzneimittel eingestellt. Zudem würden sie vielfach „mit einer problematisch hohen Zahl von Arzneimitteln zur Dauerbehandlung entlassen“. Hofft man darauf, dass es der Apotheker schon richten wird und fleißig Original gegen Generikum austauscht?
In einer Befragung von Roth-Isigkeit im Jahr 2005 gaben 58 Prozent deutscher Hausärzte an, bei der Wiedervorstellung ihrer Patienten nach einer Krankenhausbehandlung deren Entlassungsmedikation unter ökonomischen Erwägungen zu überprüfen und ggf. zu ändern. 97 Prozent der Ärzte würden nach Möglichkeit aus pharmakoökonomischen Gründen die Originalverschreibungen des klinischen Kollegen durch ein Generikum ersetzen. Ein Hauptproblem ist sicherlich die Schnittstellenkommunikation zwischen dem niedergelassenen Arzt und seinem klinischen Kollegen. Die Dokumentation des Hausarztes kann zu ungenau sein und den klinischen Anforderungen nicht genügen. Andererseits beklagen viele Hausärzte, dass bei der Entlassungsmedikation nicht auf die strukturelle Besonderheiten des Arztes und Patienten eingegangen wird und „exotische“ und überteuerte Medikamente verordnet werden.
Rechtlich sind beide Arztparteien zur Kommunikation verpflichtet. Wenn eine konkrete Schadenursache im Kommunikationsbereich entstanden ist, tendieren Juristen wegen der spezifischen Gefahren zu einer Fehler-/Verschuldensvermutung zulasten der beteiligten Ärzte. Bei festgestellten Koordinierungsfehlern liege die Annahme einer Ursächlichkeitsvermutung des Fehlers für den Gesundheitsschaden des Patienten zulasten des Arztes nahe. Der hinzugezogene Arzt ist grundsätzlich verpflichtet, den überweisenden Arzt in einem Arztbrief über die Erledigung des Überweisungsauftrags zu informieren.
Eine Studie von Himmel et al. untersuchte am Beispiel einer deutschen Allgemeinarztpraxis wie therapietreu gearbeitet wird. Über einen Zeitraum von 15 Monaten wurden Daten von 130 aus der Klinik entlassener Patienten ausgewertet. Insgesamt wurden 420 Arzneimittel verordnet. Etwa 50 Prozent der Arzneimittel wurden von der Praxis geändert. Nach der Entlassung wurden 66 Prozent der im Krankenhaus erstmalig verordneten Arzneimittel weitergeführt, 13 Prozent wurden abgesetzt, 17 Prozent der Handelspräparate geändert und 4 Prozent der Arzneistoffe ausgetauscht. Dem nachbehandelnden Arzt lagen nur bei fünf der 130 Patienten ausführliche Informationen zur Arzneimitteltherapie vor. In einem Modellversuch in England erhielten die Patienten eine Kopie des Arztbriefes zur Aushändigung an den Apotheker mit. Dieser fungiert dann als Schnittstelle zwischen Klinik und Praxis und es kann ein Abgleich der Medikation erfolgen.
Jürgen John vom Forschungszentrum für Umwelt und Gesundheit, Neuherberg, untersuchte mit Kollegen der LMU München, der Medizinischen Hochschule Hannover und dem Zentralklinikum Augsburg die Entlassungssituation von Herzinfarktpatienten. Es wurde analysiert, wie häufig Medikationsänderungen auftreten und welche Unterschiede sich aus diesen Abweichungen für die Arzneimittelkosten ergeben. Die beiden (fiktiven) Kostenwerte der 252 Patienten werden ergänzend mit den tatsächlich angefallenen Arzneimittelausgaben verglichen. Bei ca. einem Drittel der Patienten waren Entlassungsmedikation und Arzneimitteltherapie ein Jahr nach Krankenhausentlassung unterschiedlich; am augenfälligsten waren der Rückgang der Verordnung von ACE-Hemmern (von 91,1 Prozent auf 76,2 Prozent der Patienten) und der Anstieg der Verordnung von Nitraten (von 5,0 auf 18,7 Prozent der Patienten). Die mittleren hypothetischen Jahreskosten betrugen je Patient für die Entlassungsmedikation 1110 Euro und für die ambulant-ärztlich verordnete Arzneimitteltherapie 1127 Euro.
Auch in Deutschland rückt der Apotheker dem Patienten dichter ans Bett. Beim Projekt „Patient im Mittelpunkt“ führen Krankenhausapotheker auf ausgewählten Stationen in Baden-Würtemberg mit geeigneten Patienten eine Entlassberatung durch. Der Patienten erhält einen Medikamentenbegleiter in Form eines Passes mit Informationen zur Entlassmedikation und zu pharmazeutischen Problemen. Dieses Dokument soll er beim nächsten Besuch in seiner Apotheke dem Offizinapotheker vorlegen. Nach schriftlicher Patienteneinwilligung analog § 73 Absatz 1b SGB V erfolgt die Betreuung von Beginn der Aufnahme ins Krankenhaus bis zur Entlassung. Die lückenlose pharmazeutische Betreuung wird als „seamless pharmaceutical care“ bezeichnet.
Um dem Wunsch nach kompakten, anwenderfreundlichen Leitlinien zu praxisrelevanten Themen nachzukommen, entwickelt die Ständige Leitlinien-Kommission (SLK) der Deutschen Gesellschaft für Allgemeinmedizin (DEGAM) neben den Leitlinien der höchsten Evidenzstufe (S3) zusätzlich auch kurze S1-Handlungsempfehlungen für die hausärztliche Praxis. Die S1-Handlungsempfehlung zur Entlassmedikation soll zur Vermeidung von Medikationsfehlern nach Entlassung aus der stationären Behandlung beitragen und eine umfassende Medikationsüberprüfung im Sinne der hausärztlichen Leitlinie „Multimedikation“ anregen. „Die Übergänge ambulant/stationär stellen kritische Punkte für die Arzneimitteltherapie dar“, so die DEGAM in ihrer Einleitung zur Handlungsempfehlung. Bis zu 45 Prozent der Medikamente bei Entlassung werden erstmals während des stationären Aufenthaltes verordnet, bis zu 40 Prozent der Medikamente bei Aufnahme werden bei Entlassung nicht fortgesetzt. Bis zu 46 Prozent der Medikationsfehler treten im Zusammenhang mit neuen Verordnungen zur stationären Aufnahme oder Entlassung auf.
Bei Entlassung von Patienten aus der stationären Behandlung stehen Hausärzte vor dem Problem, Änderungen in der Medikation erfassen und bewerten zu müssen. Neben Indikation, Dosierung, Einnahmefrequenz und -dauer sind auch Nierenfunktion, Wechselwirkungen und Arzneimittelrichtlinien zu berücksichtigen. Es wird vorgeschlagen, die Medikationsüberprüfung nach Entlassung in zwei Schritten durchzuführen, mit denen dem Zeitfaktor Rechnung getragen werden soll. Im ersten Schritt sollen die Punkte geprüft werden, die unmittelbar von Bedeutung sind. Weniger wichtige Fragen sollen in einem zweiten, späteren Schritt geklärt werden. Nützlich ist die Auflistung von Werkzeugen und Hilfen zum Umgang mit der Entlassmedikation. Es werden Publikationen in Form von Print- und Onlinemedien zu den Bereichen Evidenz, Interaktionen, Dosierung bei Niereninsuffizienz, Priorisierung und zum Informationsmanagement gemacht. Sicher ein Schritt in die richtige Richtung. Aber derartige Empfehlungen helfen nur, wenn sie gekannt, verstanden und fachübergreifend angewendet werden. Zum Wohle des Patienten sollten Krankenhausärzte, niedergelassene Mediziner, Klinikpharmazeuten und Apotheker noch vernetzter arbeiten.